Im Kino: Fish Tank:Nichts zu verlieren

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Mia ist ein fünfzehnjähriger Rüpel, ein Ghettokind ohne Zukunft, ihre Mutter selbst noch ein arbeitsloses Partygirl: Andrea Arnolds "Fish Tank" erzählt von einem Biotop der Ausgestoßenen.

Susan Vahabzadeh

Die erste Figur, die man in Andrea Arnolds Film "Fish Tank" kennenlernt, ist Mia (Katie Jarvis). Sie ist ein fünfzehnjähriger Rüpel, ein richtiges Ghettokind ohne Zukunft. Dann erst sehen wir ihr Zuhause und begegnen auch ihrer Mutter Joanna (Kierston Wareing). Die ist selbst noch ein arbeitsloses Partygirl, höchstens doppelt so alt wie Mia. Mia und die andere kleine Tochter sind wie ein Spiegel. Sie brüllt sie an, sobald sie den Mund aufmacht. Mia, sagt sie zu einer Sozialarbeiterin, war von Anfang an nur da, um Ärger zu machen. Eine echte Rabenmutter - die selbst keinen richtigen Platz im Leben gefunden hat. Da ist nichts außer durchsoffenen Nächten mit Männern, die nicht bleiben werden.

Mia (Katie Jarvis) ist wütend, sie geht nicht mehr zur Schule, sie pöbelt jeden an, mit dem sie zu tun hat - und sie schlägt zu, wenn ihr die Worte fehlen; ein verletztes, einsames, isoliertes Mädchen. Aber kaltherzig ist sie nicht. (Foto: dapd)

Die englische Filmemacherin Andrea Arnold setzt mit "Fish Tank" die Tradition der Kitchen-Sink-Filme fort, diese ganz ureigene britische Art, nicht auf ein Milieu draufzuschauen, sondern aus ihm heraus. Arnold tut dies, passend zu der Dancefloor-Musik, um die das Leben von Joanna und Mia kreist, viel schneller als beispielsweise Ken Loach oder Mike Leigh, die großen Chronisten der von der Gesellschaft im Stich Gelassenen.

Arnold erweist sich als würdige Nachfolgerin der alten Herren, und sie erzählt von dieser dysfunktionalen Kernfamilie aus Frauensicht; sonst wird jugendliche Verwahrlosung ja doch eher mit Jungs verhandelt. Katie Jarvis ist ein echter Glücksfall für Arnold - sie ist ein solches Mädchen wie Mia, Arnold hat sie bei einem Wutanfall auf der Straße entdeckt, und vielleicht spielt sie so gut, weil man eine solche Konfusion der Gefühle und Sehnsüchte nur empfinden, nicht aber nachmachen kann.

Nur um sie, darum, wie sie die Welt wahrnimmt, dreht sich "Fish Tank". Ihre Figuren, die Rivalität zwischen Mia und ihrer Mutter, die Orientierungslosigkeit inszeniert Arnold ganz präzise - und dennoch bleibt Raum, diese Charaktere, mit all ihrem Zorn, dem Unrecht, das sie einander antun, zu mögen.

Mia ist wütend, sie geht nicht mehr zur Schule, sie pöbelt jeden an, mit dem sie zu tun hat - und sie schlägt zu, wenn ihr die Worte fehlen; ein verletztes, einsames, isoliertes Mädchen. Aber kaltherzig ist sie nicht - da ist das Pferd, das ein paar Jungs neben ihrem Wohnwagen angekettet halten und das Mia gern befreien würde. Und dann taucht ein Kerl in der Wohnung auf, der die Anti-Idylle erheblich stört - eines Nachts bringt die Mutter ihn mit.

Sein Name ist Connor - gespielt von Michael Fassbender, der in Tarantinos "Inglourious Basterds" einen vom britischen Geheimdienst rekrutierten Filmkritiker mimt -, und das Problem mit ihm ist, dass er eindeutig einen anderen Umgangston gewöhnt ist. Mia bringt die ungewohnte Fürsorge aus der Fassung, sie weiß nicht, ob sie diesen Kerl hassen oder mögen soll - und als sie sich fürs Mögen entscheidet, kann sie das auch nur auf eine sehr unbeholfene Art.

Ein klassischer Mädchentraum

Mia, furchtlos, weil sie so wenig zu verlieren hat, mit ihrer großen Klappe und ihrer permanenten Aggression, ist ein filmischer Sonderfall, aber wahrscheinlich hätte tatsächlich kein männlicher Filmemacher ein Mädchen so präzise erfinden können, wie Andrea Arnold es tut: Mias Zerstörungswut schließt immer auch sie selbst ein, und ihr Traum ist ein klassischer Mädchentraum.

Tänzerin möchte sie werden, das ist der einzige Ausweg, den sie sieht. Ausbrechen aus dem sozialen Wohnungsbau, aus dem Biotop der Ausgestoßenen irgendwo im englischen Nirgendwo. Eine fragile Zukunftsvision, denn eigentlich tanzt Mia am liebsten allein - das Selbstbewusstsein, das sie bräuchte, um es bei einem Casting zu tun, ist zu fünfzig Prozent gespielt.

Dass Mia Connor viel zu ernst nimmt, hat seinen Grund: Niemand sonst ist so nett zu ihr; er ist der Einzige, der sie zu irgendetwas ermutigt. Für ihn ist das ein Ausflug in einen urbanen Streichelzoo. Er findet Joannas Kinder niedlich, aber das heißt nicht, dass er Verantwortung übernehmen will. Er lässt die drei hängen. Man kann die Verhältnisse, in denen Mia lebt, nur ändern, wenn man sich wirklich auf sie einlässt - Connors Auf- und Abgänge schaden mehr, als dass sie nützen. Sie sorgen nur dafür, dass sie endgültig nicht mehr weiß, wohin mit ihren Gefühlen. Er hat ihr einen kurzen, schmerzlichen Blick eröffnet auf alles, was ihr eine Kindheit lang entgangen ist.

FISH TANK, GB 2009 - Regie, Buch: Andrea Arnold. Kamera: Robbie Ryan. Mit: Katie Jarvis, Kierston Wareing, Michael Fassbender, Rebecca Griffiths, Sydney Mary Nash. Kool Filmverleih, 122 Min.

© SZ vom 23.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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