Im Kino: Enter the Void:Genitalien im gleißenden Licht

Das Frühkindliche und das Todesnahe, das Fratzenhafte und das Lebensgeile: Ist es sinnvoll, einen Acid-Trip zu kritisieren? Gaspar Noés Wiedergeburts-Phantasie "Enter the Void".

Tobias Kniebe

Behauptet wird das ja oft, dass ein Film wie ein Trip sein kann. Dass er einen packt und überwältigt und irgendwohin transportiert, wo man wehrlos ist, wo man möglicherweise gar nicht hinwollte, wo man aber definitiv eine neue Erfahrung macht.

Kino

Kindlich, mütterlich, zwischen Gewalt, Sex, Tod und Geburt: Paz de la Huerta in Gaspar Noés "Enter the Void", in dem alles eins wird.

(Foto: Wild Bunch)

Ernst genommen wird diese Idee eher selten. Denn sie eröffnet alle möglichen, doch eher beunruhigenden Freiheiten. Weil es zum Beispiel sinnlos ist, einen Trip zu kritisieren.

Tolle Bilder, aber klischeehafte Handlung? Zu viel Sex, zu viel Nacktheit, politisch nicht korrekte Unterwerfungsphantasien? Eindrucksvolle Schurken, aber böse ins Fratzenhafte überzeichnet?

Solche Sätze hört man von Acidheads, Pilzjüngern und anderen Bewusstseinserweiterern praktisch nie.

Um das Frühkindliche oder das Todesnahe, das Grundlegende und Urtümliche, das Fratzenhafte und Lebensgeile geht es ja gerade. All das hat Gaspar Noé nun in eine wuchtige, mehr als zweieinhalb Stunden andauernde Kinoerfahrung verwandelt: "Enter the Void".

Oscar ist jetzt ein Geist

Man taucht da hinein mit den Augen des jungen Oscar (Nathaniel Brown), der nachts in Tokio mit seiner Schwester (Paz de la Huerta) auf einem Balkon steht. Sie muss dann zur Arbeit in einen Stripclub, er raucht ziemlich starkes Zeug, das eine bunte, an fluoreszierende Quallen und wirbelnde Computerfraktale erinnernde Wirkung entfaltet. Ein Freund namens Alex (Cyril Roy) nimmt ihn mit in die Nacht. Sie reden über das tibetische "Buch der Toten", über die Geister der Verstorbenen, Seelenwanderung und Reinkarnation. Dann wird Oscar, der auch in Drogengeschäfte verwickelt ist, von der Polizei erschossen.

In diesem Moment löst sich die Kamera zum ersten Mal von seinem Point-of-View. Sie blickt herab auf eine schmächtige Leiche in einer schmutzigen Clubtoilette. Oscar ist jetzt ein Geist.

Bekanntlich gehen die Meinungen stark auseinander, wie das Leben nach dem Tod so funktioniert - und ob überhaupt. Doch Gaspar Noé macht hier gleich mal einen starken Punkt: Als Geist sollte man unbedingt schwindelfrei sein.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wie der Filmemacher in Cannes für Furore sorgte.

Der Tod ist anstrengend

Obwohl Oscar keine materielle Form mehr hat, kann er sich nicht einfach irgendwo hinbeamen. Er muss über die Dächer, die Straßen, die Hinterhöfe drüber, muss durch die Mauern von Tokio wirklich durch. Das zeigt der Film mit aufwendigen, den Gleichgewichtssinn herausfordernden Kranfahrten, die mit der Zeit etwas anstrengend werden. Der Tod als das Ende aller Mühsal? Von wegen.

Außerdem wird dieser Geist von runden Lampen, dunklen Öffnungen, Küchenabflüssen und sogar Einschusswunden magisch angezogen. Sie saugen ihn quasi in sich hinein, und wir müssen da natürlich mit. Jeder dieser Bilderstürze führt in ein halluzinogenes Zwischenreich, aus dem man dann Gott weiß wo in Oscars Psyche wieder auftaucht - zum Beispiel in schönen Kindheitserinnerungen. Da ist seine Mutter dann weichgezeichnet und lichtumflort und bietet ihre nackte Brust dar. Schreckliche Kindheitserinnerungen gibt es allerdings auch. Dann ist Mutter blutüberströmt und tot.

Überhaupt drängen sich hier bald inzestuöse Phantasien und ödipale Motive sehr stark in den Vordergrund - als würde man nach dem Tod nicht unbedingt Gott begegnen, dafür aber auf jeden Fall Freud. Oscars Geist schaut zum Beispiel gern seiner Schwester beim Sex zu - und er rückt dabei so nah ran, als wolle er am liebsten mitmischen. Das geht über den üblichen, in vielen Fiktionen beschriebenen Drang der Toten, weiterhin an der Welt der Lebenden teilzuhaben, doch deutlich hinaus.

War das alles?

Weichgezeichnete Seelentröster-Botschaften darf man bei diesem Filmemacher, der in Argentinien geboren wurde und in Frankreich arbeitet, aber ohnehin nicht erwarten. Schon in seinem Debütfilm "Seul contre tous/Menschenfeind" verstörte er mit einem abgrundtief düsteren Menschenbild, und "Irreversible" war dann ebenfalls eine Art Trip - in einen Orkus von Vergewaltigung, Sadismus und homophoben Rachephantasien. Beim Filmfestival von Cannes löste diese cineastische Zumutung 2002 einen Skandal aus - danach hat es sieben Jahre gedauert, bis Noé 2009 mit diesem neuen Werk zurückkommen konnte.

Ganz so nihilistisch, hasserfüllt und hoffnungslos wie seine Vorgänger ist "Enter the Void" allerdings nicht. Es hat schon seinen Grund, wenn gleich am Anfang tibetische Philosophie und östliche Reinkarnationsvorstellungen beschworen werden: Am Ende seiner Reise durchs Zwischenreich darf sich Oscars Geist einen neuen Körper aussuchen, in dem er wiedergeboren werden möchte.

Wie das erzählt wird, ist dann allerdings wieder typisch Noé: In einem "Love Hotel", wo die Japaner sich nur zum Vögeln einquartieren, streift er ruhelos von Zimmer zu Zimmer: lauter explizit kopulierende Paare, deren Genitalien allerdings von gleißendem Licht überstrahlt werden. Da fließt schon die Lebensenergie, in die Oscar nun wieder eintauchen, hineinstürzen darf - und so geschieht es.

Ermattet von Farbenrausch und Bildgewalt könnte man zuletzt fragen, ob das jetzt alles war, und was wir bitte schön daraus lernen sollen. Aber das führt zu nichts - einem LSD-Trip stellt man solche Fragen schließlich auch nicht.

Enter the Void, F/D/IT 2009 - Regie und Buch: Gaspar Noé. Kamera: Benoît Debie. Schnitt: Noé, Mac Boucrot, Jerome Pesnel. Musik: Thomas Bangalter. Mit Nathaniel Brown, Paz de la Huerta, Cyril Roy, Emily Alyn Lind, Jesse Kuhn, Olly Alexander. Wild Bunch, 162 Min.

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