Im Kino: Der Berlinale-Gewinner "Gegen die Wand":Lust auf Leben

Der Filmstart wurde nach dem "Goldenen Bären" und der Porno-Kampagne um seine Hauptdarstellerin vorgezogen. Wofür sich sich bislang kaum jemand interessierte: Der Film handelt von einer "femme fatale", die ihren Mann lockt und zerstört. Doch am Ende hat sie es nur zu seinem Besten getan.

FRITZ GÖTTLER

Eine Heirat pro forma, eine Ehe nur zum Schein, das ist ein bewährter dramaturgischer Trick, man kennt ihn im Kino vor allem aus dem Repertoire der amerikanischen screwball comedy. Da wird einfach das gewohnte Verfahren auf den Kopf gestellt, da kommt erst die Eheschließung, der offizielle formale Akt, dann allmählich all die Gefühle, die er eigentlich in eine gültige Form bringen sollte. Der Appetit, heißt es im Volksmund, kommt beim Essen.

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Appetit hat in diesem Film das Mädchen Sibel (Sibel Kekilli), und es fällt ihr relativ leicht, ihren ungewöhnlichen Vorschlag durchzubringen, denn der Mann, den sie sich aussucht, Cahit (Birol Ünel), ist stark gehandikapt, er trägt den Hals in einem Stützverband und das beeinträchtigt ihn in seiner Beweglichkeit. Was Cahit und Sibel verbindet - sie haben beide eben einen Selbstmordversuch hinter sich. Sie hat sich die Adern aufgeschlitzt, er rammte seinen Ford Granada gegen die Wand.

Für Sibel ist die falsche Ehe natürlich keine Komödie. Sibel meint es ernst, sie will weg aus ihrer Familie, aus der miefigen Enge der türkischen Enklave, wie sie für deutsche Großstädte typisch ist. Sibel hasst den Verschleiß durch den Alltag, der jeden Tag ein Stückchen ihres Lebens abnutzt und vernichtet. Sie will die kurze, die intensive Erregung - ein alter Traum, von Dichtern immer wieder beschworen: "Ich wurde zu einer mythischen, fabulösen Oper", schreibt Rimbaud, "ich sah, dass allen Wesen eine Fatalität des Glücks eigen ist: die Aktion ist nicht das Leben, sondern eine Art, Kraft zu verschwenden, eine Erregung, ein Enervement. Die Moral ist die Schwäche des Gehirns." Was Sibel bleibt, ist die emotionale Explosion, ein Traum vom blutroten Feuerwerk. Was bleibt, ist der Griff zum Messer, wieder und wieder, der rasche Schnitt an den Handgelenken. Am Ende wird sie ein Opfer ihrer Illusionen, ihrer übersteigerten Hoffnungen.

Cahit ist ein einsamer Wolf, einer der leidet an seiner Einsamkeit, und daran, dass er merkt, dass er allmählich damit eine komische Figur abgeben muss. Man schaut in solchen reflexiven Momenten dem zotteligen bärenhaften Birol Ünel allemal lieber zu, als wenn er wieder einen seiner Anfälle durchzieht."Es sind sehr ernste, sehr heftige Filme", sagt Fatih Akin vom neuen türkischen Kino, das er liebt und dem er sich sehr nahe fühlt, "in denen Komödie und Tragödie ganz nah beieinander liegen - eine ganz, ganz große Kunst." Türkischer Neorealismus nennt er diese Kunst, und unbewusst scheint auch sein Kino von ihrer subtilen Farbigkeit, ihrem sanften Rhythmus zu träumen. Cahit wirbt um Sibel in der Familie, ganz der Tradition gemäß, und das ist eine aberwitzige Szene auf dem türkischen Familiensofa, bei der man nicht weiß, ob man lachen soll, ob der grausamen Komik, oder weinen, weil man die Schrecken ahnt, die den beiden bevorstehen. Sibel und Cahit heiraten, und in ihrer Beziehung setzt sich die schöne Balance zwischen Komik und Dramatischem fort - ich kann's nicht, erklärt sie ihm allen Ernstes: wenn wir's tun, bin ich deine Frau und du bist mein Mann.

Wahnsinnige Liebe ist das Thema dieses Films. Und Selbstzerstörung. Und: Liebe = Selbstzerstörung. Fatih Akin denkt an Kurt Cobain und Jim Morrison, die Meister der poetischen Selbstzerstörung. Die Gleichung funktioniert, so wird uns suggeriert, nur noch bei den anderen, den Fremden, den Türken. Also nimmt der Film uns mit auf einen Trip in diese Welt, dort ist archaisches Leben - Blut, Schweiß, Tränen -, dort endet eine Szene gern im Exzess. In der deutschen Gesellschaft, im deutschen Kino, sagt Fatih Akin, gibt es dagegen eine Unentschiedenheit, mit der er sich nicht identifizieren kann, eine Vielleicht-Mentalität.

Für seine Radikalität, scheint es, hat der Film auf der Berlinale den Goldenen Bären bekommen. Von einer Jury, die vor allem das pralle Leben sehen wollte in den Filmen und auf Stilfragen, offensichtlich, sich nicht einlassen wollte. Die Kritik hat das dann fortgeführt, hat den Film von Fatih Akin gegen den anderen deutschen Wettbewerbsbeitrag, "Die Nacht singt ihre Lieder" von Romuald Karmakar, ausgespielt - der zum Thema des "Mit dem Kopf gegen die Wand" übrigens einen klaren kleinen Film gemacht hat, "Coup de boule" von 1987.

Was in Fatih Akins Film comedy war, die Balance zwischen Komik und Tragödie, ist inzwischen, nach dem Heckmeck um den Film auf der Berlinale und danach, zur Posse geworden. (Der Filmstart wurde nach dem Erfolg spontan vorgezogen, zum Unwillen der anderen Verleiher.) Dass die einstige Angestellte Sibel Kekilli alle Profis aus dem Rennen schlägt und auf der Leinwand diese Präsenz entwickelt, wurde von den Filmemachern als eine Art filmischer Mehrwert dargestellt - was auch mit dem Traum vom spontanen Filmemachen zu tun hat, den Fatih Akin propagiert: ein cinéma direct, das nicht unbedingt zur Kinowahrheit führen muss. Als durch die Bild-Zeitung bekannt wurde, dass Sibel Kekilli bereits in Pornofilmen mitgespielt hatte, wurde auch der unschuldige Traum vom naiven Kino zerstört. Aber was für eine Naivität ist das eigentlich, wenn Fatih Akin von Sibel Kekilli erzählt: "Sie hatte die Eier, das mit Birol zu machen, sie hatte den Ehrgeiz, das zu machen. Sie hat ganz früh mal etwas gesagt: Wenn ich was mache, dann mach ich das richtig."

Sibel zieht los, nach der Heirat, um die Freiheit zu suchen, richtig zu genießen: "Ich will leben, ich will tanzen, ich will ficken. Und nicht nur mit einem Typen." Die Frau provoziert, aber ihre Provokation ist Programm. Sibel Kekilli kann zart sein und zerbrechlich, aber auch drastisch und ordinär. Dass sie sich nicht festlegen will, macht ihre Stärke aus - und ihre Schwäche gleichermaßen. Die femme fatale, die den Mann lockt und verführt und zerstört, und am Ende hat sie es allemal zu seinem Besten getan.

Was Formen im Film bedeuten und wie Emotionen generiert werden durch filmische Formen, darüber wird in der Filmkritik heute nur noch wenig diskutiert. In seinem Film "Solino" hat Fatih Akin die Ausbeutung des privaten Lebens durch die Filmemacher und ihre Kamera gezeigt - als einer der Brüder der italienischen Gastarbeiterfamilie sich mit einem Home-Movie in Oberhausen profiliert. In "Gegen die Wand" geht er weiter, zeigt er uns das Kino als eine Zeit in der Hölle.

GEGEN DIE WAND, D 2004 - Regie, Buch: Fatih Akin. Kamera: Rainer Klausmann. Schnitt: Andrew Bird. Musik: Selim Sesler, Idil Üner. Mit: Birol Ünel, Sibel Kekilli, Catrin Striebeck, Güven Kiraç, Meltem Cumbul, Hermann Lause, Cem Akin, Demir Gökgöl, Aysel Iscan. Timebandits films, 121 Minuten.

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