Im Kino: "Das Wunder von Bern":Rahn hätte schießen können. Hätte.

Der Film zur glorreichsten aller Weltmeisterschaften und gleichzeitig der optimal verschossene Elfmeter von Sönke Wortmann.

FRITZ GÖTTLER

Deutschland ist im Zugzwang. Der Kanzler hat eine Agenda 1954 auf sein Programm gesetzt. Was nicht weiter verwunderlich ist - die Berichte waren eindeutig von dem Abend, an dem Sönke Wortmann ihm eine frühe Fassung von "Das Wunder von Bern" zeigte: "Der Bundeskanzler hat dreimal geweint." Also möge auch beim Volk vor diesem Film kein Auge trocken bleiben.

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Als prächtiges Instrument der Geschichtsschreibung hat das Kino von seinen Anfängen an sich verstanden, und das keineswegs objektiv, sondern engagiert, mit Pathos und Emotionen. Die großen historischen Events festgehalten oder wieder belebt von der Kamera. Mit der Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof von Essen beginnt die Geschichte bei Sönke Wortmann, im Sommer 1954. Ein Vater kehrt zurück, lange, viel zu lange ist er in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Die Mutter und ihre Kinder haben gelernt, ohne ihn zurecht zu kommen. Bald werden wir wieder eine richtige Familie sein, hatte die Mutter bei der Nachricht von der Freilassung verkündet. Aber der Vater, der einst fehlte, ist nun fehl am Platz.

Bahnhofszenen funktionieren immer fabelhaft im Kino. Momente, da nur die Blicke zählen, dieses Zögern im Aufeinanderzugehen, bei den Körperkontakten. Ein faszinierendes Ineinander von Nähe und Fremdheit. Nach dem großen Bahnhof fangen die bitteren Lehr-Wochen des Vaters (Peter Lohmeyer) an. Er muss umlernen für seine Rolle. Er muss seine Verkrampfung loswerden, muss wieder spielerisch frei werden. Wenn er ihm dabei auf den Fersen bleibt, gewinnt der Film selbst eine angenehme Lockerheit. Aber dann wendet er sich wieder der parallel laufenden Geschichte von der Berner Weltmeisterelf zu - und alles wird steif und zäh.

Der Sohn, Matthias (Louis Klamroth), hat eine Beziehung zu Helmut Rahn aufgebaut, dem "Boss" der deutschen Nationalmannschaft - wenn ich nicht dabei bin, erklärt er keck, könnt ihr kein wichtiges Spiel gewinnen. Sascha Göpel spielt Rahn wie einen Ruhrpott-Rebellen without a cause - der angesichts der deutschen Trümmerlandschaft um einen Rest Jungenhaftigkeit kämpft.

Viele Jahre hat Sönke Wortmann, Exspieler der SpVgg Erkenschwick gewartet, bis er sich reif fühlte für diesen Film - und bis die Technik da war, um die Spiel- und Massenszenen im Wankdorfstadion so dynamisch zu gestalten, wie sie es verdienten. So bekommen wir nun eine Geschichte, in der es auf vollen Körpereinsatz ankommt, erzählt mithilfe der Computerkunststücke. Die Dramaturgie hat merklich darunter gelitten, und die Atmosphäre - der Film kommt vielfach so ungelenk und klapprig daher wie die Fußballer, wenn sie mit ihren Stollen auf dem harten Betonboden in den Stadiongängen marschieren.

Ein Lehrstück, ein Thesenfilm - von den kleinen anarchischen Filmen seiner Frühzeit ist nur der Name von Sönke Wortmanns Produktionsfirma geblieben, Little Shark Entertainment. Der Sieg von Bern hat, sagt der Film, das deutsche Volk wieder in die globale politische Oberliga zurückgebracht. "Ein Jahr später kamen die letzten Kriegsgefangenen nach Hause zurück. Ein Jahr später begann das Wirtschaftswunder. Die Elf von Bern spielte nie wieder zusammen." Wir sind wieder wer . . . mit dem Preis dieser Entwicklung, mit dem, was dabei verdrängt und unterdrückt wurde, will der Film sich nur wenig befassen. Das andere, das wesentliche Wunder ist die Heilung des Vaters. Ein deutscher Mann darf auch mal weinen . . . Ein Vater, der vom Sohn erlöst wird, man kennt das Modell.

"Das Wunder von Bern" soll sich auch an den deutschen Kinokassen wiederholen. Ein Sonderzug war fällig, an den Ort des Geschehens, zur großen Premiere mit Kanzler und Bundestrainer. Danach die Nation vor den Leinwänden vereint. Aus den Stadien direkt ins Kino. Was der Lenin im Frühjahr, soll nun der Rahn im Herbst leisten. Wir sind wieder wer . . . Der Oscar für "Nirgendwo in Afrika", Auswärtserfolge auch für Sandra Nettelbeck und Wolfgang Becker, immer mehr deutsche Filme in unseren Kinos, mit respektablen Einspielergebnissen.

Sönke Wortmann hat den Film zu seinem magnum opus erklärt - mehr könne ein Regisseur nicht schaffen in diesem Land. Eine groteske Attitüde, ein dummes Verständnis von der eigenen Profession, ausgerechnet bei einem, der sich gern aufs amerikanische Kino beruft, der in Hollywood einen Film dort bereits realisieren konnte. Wird das "Wunder von Bern" seinen eigenen Standards wirklich gerecht? (Der beste Fußballerfilm bleibt, nebenbei gesagt, "Die entführte Braut - Roxi und das Wunderteam", 1938, von Johann Vaszary, mit Hans Holt. Entstanden im Schatten der Niederlage einer ungarischen Fußballelf gegen das österreichische Wunderteam.)

Eine Elf, die nie wieder zusammenspielte . . . Was Gemeinschaft wirklich bedeutet, davon könnte das Kino wunderbar erzählen. Wie man Erfahrungen macht und diese weitergeben könnte. Was der Ursprung der Lebensweisheit ist. Herberger, das selbsternannte Orakel von Bern, holt die seine von einer sybillinischen Urmutter, einer alten Putzfrau in seinem Hotel.

DAS WUNDER VON BERN, D 2003 - Regie: Sönke Wortmann. Buch: S. Wortmann, Rochus Hahn. Kamera: Tom Fährmann. Musik: Marcel Basotti. Schnitt: Ueli Christen. Mit: Louis Klamroth, Peter Lohmeyer, Lucas Gregorowicz, Katharina Wackernagel, Johanna Gastdorf, Mirko Lang, Birthe Wolter, Sascha Göpel, Holger Dexne. Senator, 118 Min.

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