Im Kino: Before Sunset:Endlich Sex! Vielleicht auch nicht.

Neun Jahre warten, dann ein unverhoffter Seitenblick von ihr - und bang! Das ist in Kurzform der Plot des Films. Wer um die dreißig ist, und noch ein Tröpfchen Lebenselexier in sich spürt, den wird dieser Film nicht kalt lassen. Die anderen - die sollen sich solange Wien anschauen.

TOBIAS KNIEBE

Es war einmal, neun Jahre ist es her, in Wien, "Before Sunrise"... Nun treffen Julie Delpy und Ethan Hawke sich wieder, in Paris, "Before Sunset" Selbstverständlich gibt es Menschen Mitte dreißig, die dieser Film nicht berühren wird.

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(Foto: Foto: Warner)

Menschen, die in der Schule schon wussten, dass sie einmal die Baufirma des Vaters übernehmen und das Mädchen aus der Parallelklasse heiraten würden, was sie dann auch getan haben; die nach dem Abitur eine Banklehre machten, weil es "was Sicheres" war; die viermal in "Dirty Dancing" gegangen sind.

Nennen wir sie die Unerschütterlichen. Jene unter ihnen, die sich im Jahr 1995 zufällig in den Film "Before Sunrise" verirrt hatten, mussten ihre Freunde anschließend warnen: Vor einem Mädchen und einem Jungen, die sich im Zug treffen, offensichtlich toll finden, dann aber 105 Minuten durch Wien laufen und nur reden und reden, und nachts im Park vielleicht endlich Sex haben, vielleicht auch nicht.

"Kann man sich sparen", sagten die Unerschütterlichen. Und irgendwie waren sie auch zu beneiden: Für ihren Mangel an Selbstzweifeln, für ihre Fähigkeit, ihr Leben als gegeben hinzunehmen, für ihr knitterfreies Bewusstsein, es so schlecht nicht erwischt zu haben.

Damit waren wir, der andere Teil dieser Generation, nie gesegnet. Jedenfalls haben wir es bisher nicht geschafft, eine ähnliche Gemütsruhe zu entwickeln. Was einerseits sicher ein Fluch ist, andererseits ein Geschenk. Wir konnten in "Before Sunrise" gehen und plötzlich das Gefühl haben, uns selbst auf der Leinwand zu sehen - mit all unseren Träumen und Fragen, all unseren eingestandenen und uneingestandenen Problemen.

Es wurde wirklich nur geredet, schon wahr - aber manche dieser Sätze trafen direkt ins Herz, und am Ende waren wir aufgewühlt wie nach einem guten Thriller. Es ging nie richtig zur Sache, keine Frage - aber wenn wir ehrlich sind, dann hat sich die Liebe auch in Wirklichkeit genauso angefühlt: wie eine schockartige Erkenntnis von Übereinstimmung, die mit sehr vielen Worten abgefedert werden musste, bevor an Sex auch nur zu denken war.

Mit den Jahren erwies sich "Before Sunrise" als ein Film, der half, den zweifelnden und träumenden Teil einer Generation zu definieren, die ansonsten kaum definiert war. Und wenn es jetzt eine Fortsetzung gibt, ist das natürlich eine große Sache: Dasselbe Mädchen, derselbe Junge, derselbe Regisseur. Und, jawohl - am Ende auch dieselbe Erschütterung.

Was nicht ganz selbstverständlich war. "Before Sunset" hätte böse schief gehen, Erinnerungen zerstören, Ideale begraben können. Julie Delpy, 34, und Ethan Hawke, 33, die das Mädchen und den Jungen spielen, muss das sehr bewusst gewesen sein. Mitte der Neunziger Jahre schien es so, als würden sie gerade die Welt erobern - heute wissen wir, dass ihre Schöpfung von damals vielleicht das Wertvollste ist, was sie bisher gemacht haben. Deswegen haben sie dieser Fortsetzung auch das Wertvollste gegeben, was sie heute besitzen: Neun Jahre mehr Lebenserfahrungen, gesammelte Erkenntnisse, unverheilte Wunden, gelöste und ungelöste Probleme.

Sie haben sich Hals über Kopf auf das Drehbuchschreiben gestürzt, um diesen Figuren weiterhin Wahrheit zu verleihen, in einem wunderbaren Freiraum, den ihnen der Regisseur Richard Linklater geschaffen hat. So ist ein dichter Film entstanden, der sich in keinem Moment falsch anfühlt, sondern im Gegenteil: oft so richtig, dass es weh tut.

Wer Mitte dreißig ist und sich noch immer erschüttern lässt, blickt hier einmal mehr der Wahrheit ins Auge.

Am Ende der Nacht von Wien, im ersten Teil, machten Celine, die Französin, und Jesse, der Amerikaner, ein Treffen aus: Gleicher Bahnsteig, gleiche Uhrzeit, genau ein halbes Jahr später.

Es hat, soviel muss enthüllt werden, nicht geklappt. Und weil sie sich ganz bewusst weder Adressen, Telefonnummern noch Nachnamen verraten haben, hatten sie auch nie die Chance, sich danach noch einmal wiederzusehen - neun Jahre lang.

Bis Jesse einen Roman schrieb über die Begegnung von damals und damit auf Lesereise nach Frankreich ging (nicht unähnlich dem echten Ethan Hawke, der inzwischen ebenfalls Schriftsteller ist).

Celine sah das Plakat seiner Signierstunde zufällig in ihrem Pariser Lieblingsbuchladen, wartet auf das Ende der Fragestunde, ein Seitenblick von ihm - und bang!

Neun Jahre Hätten-wir-doch und Was-wäre-wenn krachen über den beiden zusammen. Tastend versuchen sie, sich wieder näher zu kommen.

Sie gehen einen Kaffee trinken, die Uhr tickt, in zwei Stunden geht Jesses Flugzeug, er muss zurück nach Amerika zu Frau und Kind.

Der Reichtum der nun folgenden Begegnung, die praktisch in Echtzeit stattfindet, lässt sich unmöglich zusammenfassen.

Er reicht vom typischerweise eher selbstgefälligen Und-was-machst-du-so-Geplänkel bis hin zum wechselseitigen, vielleicht aber auch leicht taktischen Eingeständnis, das jeweilige Liebesleben seit Wien komplett vor die Wand gefahren zu haben.

Das Gefühl, dass diese beiden füreinander bestimmt sind, ist bald schon wieder mit Händen zu greifen - aber die Frage, was jetzt zu tun wäre, ist tausendmal schmerzlicher und komplizierter als damals.

Sie mündet in einen großen Satz von Jesse, der von seinem Wunsch erzählt, ein guter Ehemann und Vater zu sein, aber auch von der fixen Idee seines "besseren Selbst" berichtet, die sein "ehrliches Selbst" langsam zu begraben droht.

Celine wiederum ist Aktivistin für eine Umweltorganisation, schreibt Songs, die sie auf ihrer Gitarre spielt (nicht unähnlich der echten Julie Delpy, die inzwischen eine Band hat), lebt in einem pervers malerischen Pariser Hinterhof, hat einen Kater namens Che - und ist dennoch offenbar ein halbes emotionales Wrack.

Am Schluss legt sie "Just in Time" von Nina Simone auf, gibt die beiläufige Imitation einer großen Diva in ihrer Wohnküche und tanzt dabei so anstrengungslos, wie das wohl nur Französinnen können.

Jesse versinkt in ihrem Sofa mit der Patchwork-Decke, sieht ihr einfach nur zu und grinst wie ein Vollidiot. Wollte er seinen Flug noch erreichen, müsste er ungefähr in dieser Sekunde aufbrechen.

Die Frage, was er tun wird, sagt am Ende wenig über den Film, aber fast alles über den Betrachter. Wäre er ein Unerschütterlicher mit eigener Baufirma, soll die Antwort kein Problem sein: Ein bisschen vögeln, klar. Das Ticket, siehe da, ist umbuchbar, die nächste Maschine geht um zehn. Diese Gemütsruhe haben wir nicht und werden wir niemals haben. Was bleibt, sind Zweifel und Träume - und ein Haufen Fragen, für die es eigentlich keine Lösung gibt.

BEFORE SUNSET, USA 2004 - Regie: Richard Linklater. Buch: R. Linklater, Julie Delpy, Ethan Hawke. Kamera: Lee Daniel. Mit: Ethan Hawke, Julie Delpy, Vernon Dobtcheff. Warner, 80 Minuten.

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