Im Interview: Graf Wladimir Tolstoi:Leben unter Glas

Graf Wladimir Tolstoi ist der Ururgroßenkel von Leo Tolstoi: Ein Gespräch über unglückliche Familien und all die Linien, die auf den großen Schriftsteller zurückführen.

Harald Hordych

Graf Wladimir Tolstoi, 47, ist ein Ururenkel des russischen Schriftstellers Lew Tolstoi, der im November 1910 im Alter von 82 Jahren gestorben ist. Insgesamt gibt es weltweit ungefähr 300 direkte Nachkommen. Wladimir Tolstoi studierte internationalen Journalismus in Moskau und arbeitete von 1980 bis 1992 beim "Studentischen Meridian". Seit 1994 hat er als Direktor von Jasnaja Poljana das ehemalige Gut der Familie Tolstoi zu einem großen Kulturzentrum ausgebaut. Graf Wladimir Tolstoi ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Er lebt in Jasnaja Poljana. Das Gespräch dolmetschte Rosemarie Tietze. Von ihr stammt die soeben im Hanser-Verlag erschienene Neuübersetzung von Tolstois "Anna Karenina".

Wladimir Tolstoi in München, 2010

" Der Abstand zwischen uns sind eigentlich nur die Knie meines Großvaters." Wladimir Tolstoi über die Verbindung zu seinem berühmten Vorfahren Lew Tolstoi.

(Foto: sz.lokales)

Lesen Sie hier Auszüge aus dem Interview mit der SZ am Wochenende vom 19./ 20. Juni 2010.

SZ: Einer der berühmtesten ersten Sätze der Weltliteratur stammt aus "Anna Karenina": "Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich. Jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise." Herr Tolstoi, ist die Familie Tolstoi einzigartig oder gleicht sie vielen Familien?

Graf Wladimir Tolstoi: Unsere Familie steht in einem großen Widerspruch zu diesem Satz: Sie ist eine glückliche Familie, aber sie gleicht anderen Familien trotzdem überhaupt nicht.

SZ: Warum nicht?

Tolstoi: Ich habe eigentlich nie in irgendeiner anderen Familie derart intensive Beziehungen untereinander erlebt, wie das bei uns der Fall ist. Das betrifft auch außergewöhnlich intensive Beziehungen zum Leben selbst. Es kann durchaus sein, dass wir aus der Distanz merkwürdig erscheinen: Wir sind alle sehr emotional.

SZ: Gilt gerade große Emotionalität nicht sowieso als typisch russisch?

Tolstoi: Es gibt verschiedene Arten von Emotionen. So eine laute, schreiende Emotionalität. Es gibt aber auch eine Emotionalität des inneren Erlebens. Der Intensität der Gefühle. Hitzigkeit bei der Verteidigung von Gerechtigkeit. Wir sind eigentlich sehr ruhig, die meiste Zeit jedenfalls. Aber wenn uns dann irgendetwas trifft, dann kommt alles innerlich hoch!

SZ: Ihr Ururgroßvater war ja als Gerechtigkeitsfanatiker bekannt. Wenn Sie so erzählen, klingt das, als läge diese Einstellung in der Familie?

Tolstoi: Natürlich. Sowieso führen alle Linien mehr oder weniger auf ihn zurück.

SZ: Auch Sie stammen in direkter Linie von Lew Tolstoi ab...

Tolstoi: Lew Tolstoi ist der Großvater meines Großvaters. Als ich klein war, habe ich auf den Knien meines Großvaters gesessen. Als der klein war, hat er auf den Knien von Lew Tolstoi gesessen. Der Abstand zwischen uns sind eigentlich nur die Knie meines Großvaters.

SZ: Sie haben gesagt, die Tolstois werden als etwas eigenartig angesehen. Wieso?

Tolstoi: Besonders klar wird das, wenn wir uns alle treffen. Man spürt dann eine Leidenschaft, Begeisterung, geradezu Lebensgier. Das Verlangen, das Leben bis in alle Einzelheiten kennenzulernen.

SZ: Dieses Verlangen, zu den Einzelheiten des Lebens vorzudringen, ist das Gemeinsame, was alle Tolstois verbindet?

Tolstoi: Ich denke ja! Ich erinnere mich noch gut an die Generation der Enkel von Lew Tolstoi. Ich habe einige, die in verschiedenen Ländern gelebt haben, gekannt.

SZ: Das müssen sehr viele gewesen sein. Er hatte doch 13 Kinder, nicht wahr?

Tolstoi: 13 Kinder wurden geboren, aber ein Teil davon ist sehr früh gestorben.Tolstois drittes Kind war Ilja. Das war mein Vorfahr. Die Nachkommen von Ilja sind die einzigen, die noch in Russland leben. Weitere Nachkommen leben in Schweden, USA, Italien, Frankreich und Brasilien.

SZ: Alles Tolstois?

Tolstoi: Jaja, aber nur die männlichen Mitglieder haben natürlich den Namen weitergegeben. Ich erinnere mich gut daran, wie die Generation meines Vaters große Unterschiede gemacht hat: Das ist ein echter Tolstoi, das ist kein echter Tolstoi. Das ist vorbei. Die Frauen aus der Tolstoi-Linie sind wunderbar! Lew Tolstoi ist ja auch nicht vom Himmel gefallen. Die Linie seines Vaters ist bis in 13.Jahrhundert dokumentiert, die seiner Mutter bis ins 11. Jahrhundert. Diese geballte Energie floss in Lew Tolstoi zusammen.

SZ: Hat dieser Hang zur Sinnsuche dazu geführt, dass es noch weitere Künstler in der Familie gegeben hat?

Tolstoi: Nehmen Sie mich als Beispiel: Auch ich habe mit gerade mal 20 angefangen, Literatur zu schreiben, die Fragen gestellt hat. Aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, das Manuskript einem Verlag vorzulegen. Und schließlich ist mein Roman verbrannt, zusammen mit dem Haus, in dem er lag. Die Kinder meines Bruders hatten auf dem Speicher gezündelt. Und dann sind sie zum Baden geholt worden und haben die brennenden Kerzen vergessen. Es war in einem Holzhaus, eine Stunde von Moskau entfernt, wo wir unser eigenes kleines Jasnaja Poljana geschaffen hatten, und es ist verbrannt.

SZ: War das nicht schrecklich für Sie, Ihr Manuskript zu verlieren?

Tolstoi: Vielleicht schon, aber sollte man als Tolstoi in dem Alter wirklich mit einem Roman an die Öffentlichkeit gehen?

SZ: Ist der Name nicht ohnehin eine sehr große Bürde, die man als noch schwerer empfindet, wenn man selbst nicht schreibt - als lege sich ein Schatten auf den Namen?

Tolstoi: Nein, danach zu streben, einfach ein guter Mensch zu sein, der nicht schreibt, das ist kein Schatten. Das ist ein Wert an sich. Ein guter Mensch zu sein ist besser als ein mittelmäßiger Künstler.

SZ: Tolstoi ist in Russland ein Name wie in England Shakespeare. Wie reagieren die Menschen auf Ihren Namen?

Tolstoi: Ich spüre immer Aufmerksamkeit. Das ist auch wenig verwunderlich, wenn man sich erinnert, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts in Russland gesagt wurde: In Russland leben zwei Zaren - NikolausII. und Lew Tolstoi. Die moralische Autorität Tolstois in Russland war riesig. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen.

SZ: Und wie ist die Bedeutung heute?

Tolstoi: Die Bedeutung, die seinen Werken noch immer beigemessen wird, ist gewaltig: Das fängt im Kindergarten mit ersten Erzählungen Tolstois an und geht in der Schule weiter. Mit anderen Worten: Tolstoi begleitet einen Russen das ganze Leben. Puschkin und Tolstoi sind zu festen Begriffen im Alltag geworden. Man sagt zum Beispiel: Wer soll für dich ackern? Tolstoi etwa?

SZ: Klingt fast gottgleich. Spüren Sie, dass Sie noch immer an einer übergroßen moralischen Instanz gemessen werden?

Tolstoi: Man hat immer das Gefühl, man würde unter einem Vergrößerungsglas leben.

SZ: Jeder Tolstoi?

Tolstoi: Ob jetzt jeder, weiß ich nicht. Mein Cousin ist Fernsehjournalist und spricht zur Primetime am Abend die Nachrichten. Natürlich empfindet er diesen Druck.

SZ: Hängt diese große Bedeutung Tolstois auch damit zusammen, dass er sich sehr für die Bildung der einfachen Schichten eingesetzt hat?

Tolstoi: Er hat sogar Schulen gegründet. Aber noch wichtiger ist, dass er eine Philosophie der lebendigen Pädagogik entwickelt hat. 1860, vor genau 150 Jahren, ist er durch Europa gereist und hat sich Schulen angeschaut. Für ihn bestand die Aufgabe des Lehrers nicht darin, den Kopf des Schülers mit Wissen vollzustopfen, sondern in ihm das Interesse an der Erkenntnis zu entwickeln. Jedes Kind war für ihn eine individuelle Persönlichkeit.

SZ: Sogar Summerhill beruft sich auf seine Ideen!

Tolstoi: Summerhill, Montessori, Fröbel - auf die ein oder andere Weise haben sich all diese Ideen mit seinen Ideen überkreuzt.

SZ: Ihr Ururgroßvater war allerdings auch sehr exzentrisch. Als junger Mann hat er exzessiv gespielt und getrunken. Seine Tagebücher sind voller Selbstanklagen.

Tolstoi: Sein übergroßes Gerechtigkeitsempfinden und sein ausgeprägtes Gewissen haben dazu geführt, dass er seine Taten als extrem negativ empfunden hat - in Wirklichkeit hat er gelebt wie alle anderen Menschen seiner adligen Schicht auch. Sein Verhalten war das allgemeine. Dass er sich dafür anklagt - das war Tolstoi!

Das vollständige Interview lesen Sie in der SZ am Wochenende vom 19./ 20. Juni 2010.

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