Im Interview: George Tabori:"Ich werde 90 - ich habe es nicht verdient"

Er ist der Doyen des deutschsprachigen Theaters. Er hat es im Laufe vieler, bewegter Jahre gewissermaßen liebevoll revolutioniert. Und alle wichtigen Bühnen haben es sich dankbar gefallen lassen. Ein Gespräch mit dem Theatermacher George Tabori, der am Montag einen ziemlich runden Geburtstag feiert.

Interview: Benjamin Henrichs

Am liebsten hätte George Tabori unser Interview in der Kantine des Berliner Theaters am Schiffbauerdamm aufgeführt. Weil es dort aber dann doch zu betriebsam und laut war, sind wir aus der gemütlichen Unterwelt des Theaters auf verwinkelten Wegen hinaufgestiegen ins Heiligtum: ins Helene-Weigel-Zimmer. An den Wänden dort: riesige Schwarzweißphotos der legendären Schauspielerin und Brecht-Gemahlin sowie ungefähr fünfzig weiße Gipsmasken großer Theatermacher, lebender und toter. Es ist vollkommen still hier, kein Theaterlärm ist zu hören, kein Peymann und kein Beil. Nur die Vögel vor den Fenstern singen, aus voller Brust.

Im Interview: George Tabori: Ich habe nie Tschechow inszeniert, das sollte ich jetzt eigentlich tun.

Ich habe nie Tschechow inszeniert, das sollte ich jetzt eigentlich tun.

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Tabori, am 24. Mai werden Sie 90 Jahre alt. Großes geht vor hier im Hause, am Berliner Ensemble. Es wird eine Tabori-Matinee geben, eine Tabori-Premiere, dann den großen Tabori-Festakt am Geburtstagsabend selber . . .

George Tabori: Ich weiß davon zum Glück nichts Genaues. Es soll ja eine Überraschung für mich sein.

SZ: Wie wird man denn fertig mit so viel Liebe?

Tabori: Ich werde 90. Ich habe es nicht verdient. Ich habe niemals gesund gelebt, nicht geschwommen, nicht geturnt und solche Sachen. Und jetzt bin ich also der dienstälteste Theatermacher der Welt. Sogar älter als Sophokles, der mit 80 den ¸¸Ödipus" geschrieben hat. Bis vor drei oder vier Jahren habe ich mir keine Gedanken gemacht über mein Alter. Natürlich habe ich über den Tod geschrieben, wie es jeder Schriftsteller tut, aber persönlich Sorgen gemacht habe ich mir nicht. Seit drei Jahren etwa ist das anders. In Wien habe ich drei Stücke im Jahr gemacht, hier in Berlin nur noch eines, das genügt. Ich vermisse Wien, das Wiener Theater, das Wiener Publikum, vielleicht auch die Nähe zu Ungarn, zu Budapest. Wien fehlt mir, Wien war besser - aber ich darf das nicht zu laut sagen, sonst kriege ich Ärger mit Peymann.

SZ: Ist nicht auch jede Premiere eine Art Geburtstag? Sogar jede Probe? ¸¸Eine Theaterprobe", das haben Sie im Interview mit André Müller gesagt, ¸¸spiegelt für kurze Zeit das ideale Leben wider".

Tabori: So denke ich immer noch. Übrigens verrate ich Ihnen jetzt, was ich bei diesem 90. Geburtstag vortragen werde. Meine erste Geschichte, ich habe sie mit 16 Jahren geschrieben. Sie hieß ¸¸Die Schreibmaschine". Eine surreale Phantasie: Mein Kampf mit der Schreibmaschine. Ich habe nämlich immer nur Liebesgeschichten geschrieben. Dumme Liebesgeschichten. Die Schreibmaschine wollte aber, dass ich politische Geschichten schreibe, und so haben wir immerzu gestritten. Bis die Maschine in ihrer Verzweiflung aus dem Fenster gesprungen ist. Selbstmord. Mein Vater war, wie soll ich es sagen, ein sehr ernster Kritiker seiner Kinder. Aber diese erste Geschichte von mir, die hat er gelobt! Das war also so etwas wie der Geburtstag des Schriftstellers Tabori.

SZ: Sie haben in so vielen Ländern gelebt, in so vielen fremden Welten. Ist denn nicht auch das Theater selber so etwas wie ein Exil? Ein Zufluchtsort, eine warme Höhle, eine Arche?

Tabori: Das ist so. Vielleicht ist das Theater die einzige Heimat. Ich habe mich immer als Fremder gefühlt. Nicht als Ungar, nicht als Engländer, nicht als Amerikaner. 1969 bin ich nach Deutschland gekommen, fragen Sie mich nicht, wieso. Vermutlich, weil das deutsche Theater damals das beste Theater der Welt war. Und es ist wahrscheinlich heute noch das beste!

SZ: In einem früheren Interview habe ich einen Ihrer tollkühnsten Sätze gelesen: ¸¸Das Böse interessiert mich nicht!"

Tabori: Es hat mich schon interessiert, bis vor fünf oder sechs Jahren. Jetzt interessiert es mich nicht mehr. Jetzt, wo ich etwas älter bin . . .

SZ: Wenn man sein Leben so sehr wie Sie im Theater verbringt: Wie viel nimmt man noch wahr von der Stadt, in der man lebt? Und von den Weltnachrichten, in denen das Böse ja fast täglich schamlos die Hauptrolle spielt?

Tabori: Ich habe immer Glück gehabt. Ich habe das Böse nie direkt erlitten, im Gegensatz zu meiner Familie. Die meisten aus meiner Familie sind von den Nazis ermordet worden. Ich habe Glück gehabt, nennen wir es so. Ich habe nie etwas geplant, alles ist zufällig geschehen: Ich bin zufällig nach Sofia gekommen, nach Jerusalem, nach Istanbul, in die schönste Stadt der Welt, damals. Nach London, nach Hollywood, nach New York. Alles Zufälle, ich habe nie lange darüber nachgedacht. Als ich dann nach Deutschland ging, rief mich mein Sohn Christopher aus New York an: Bist du verrückt geworden, in Berlin sind doch die Nazis! Und ich habe nur geantwortet: Es geht mir sehr gut!

SZ: Sind Sie denn des Theaters niemals überdrüssig geworden? Der Schauspieler? Sind die Schauspieler für Sie immer nur die Lebensretter? Niemals die Nervensägen?

Tabori: Niemals. Die Schauspieler sind die wichtigsten, das hat schon Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie gesagt. Ich kann Theater ohne ein Bühnenbild machen, ohne einen Dramaturgen. Ohne Schauspieler geht es nicht. Sie sind ein unerschöpfliches, ein unendliches Vergnügen. Ich mache nun seit 80 Jahren Theater, nein, seit 70 Jahren Theater, aber ich habe noch niemals zwei gleiche Aufführungen gesehen. Theater ist immer anders. Wenn auch natürlich nicht immer gut. Ich habe viele Reinfälle gehabt. Einiges ist mir tatsächlich nicht so gut gelungen - was man allerdings auch von Shakespeare sagen könnte . . .

SZ: Sie haben einmal gesagt, jeder Mensch sei jeden Tag vollkommen anders - noch so ein unverschämt optimistischer Satz. Er widerspricht aber zum Beispiel total diesem Tschechow-Gefühl: dass die Tage einander grauenvoll ähnlich sind. Wenn Sie über das Leben reden, denkt man, jeder Tag sei wie eine Theaterprobe. Alles fängt immer wieder an, immer wieder neu. Es ist immer wieder Morgen.

Tabori: Jeder Tag ist anders. Es verläuft jeder Tag anders, als man glaubt. Zum Beispiel heute. Ich bin sehr spät aufgestanden und fühlte mich gar nicht gut. Dann habe ich mit unserem ungarischen Hund gesprochen und gedacht: Dieses Interview heute, das muss ich absagen. Erst, als ich dann unten in der Kantine saß, ging es mir gut. Und ich dachte: Es kann schnell gehen, dieses Interview, es kann Stunden dauern, mir ist es recht. Tschechow? An den denke ich oft. Seine Stücke sind über hundert Jahre alt, aber sie altern niemals. Das gibt es also auch! Ich habe nie Tschechow inszeniert, das sollte ich jetzt eigentlich tun.

SZ: Und welches Stück von Tschechow wird es sein?

Tabori: Die ¸¸Drei Schwestern" natürlich. Aber warten Sie! Habe ich die ¸¸Drei Schwestern" nicht doch schon inszeniert? In Wien etwa? Es ist ganz unglaublich, wie viele Stücke ich schon inszeniert habe! Aber die ¸¸Drei Schwestern"? Ich weiß es nicht mehr. Aber es ist ja auch egal. Viel wichtiger ist, dass ich jetzt endlich bald den ¸¸König Lear" inszeniere. Das beste Stück, das ich kenne. ¸¸König Lear" wird mein letztes Stück sein. Hilmar Thate, der könnte es spielen. Wenn es bei Peymann nicht geht, dann mache ich es eben anderswo. Sie müssen wissen, dass ich drei Autoren immer am meisten bewundert habe. Kafka, Beckett, Shakespeare. Diese drei, das reicht für ein Leben.

SZ: Sie haben ¸¸Warten auf Godot" an den Münchner Kammerspielen inszeniert, 1984, mit Lühr und mit Holtzmann. Auch das war ein sehr optimistischer Abend: Welch ein Vergnügen, so dachte man als Zuschauer, auf Godot zu warten! Wenn man es mit Holtzmann und Lühr zusammen tut. Haben Sie denn Beckett einmal getroffen?

Tabori: Ich wollte ihn immer kennenlernen, schon als er in Berlin inszenierte. Viel später, vor dem Münchner ¸¸Godot", ist es dann geschehen, in Paris, in einem ziemlich trostlosen modernen Hotel, das Beckett für mich bestellt hatte, er hat da ganz in der Nähe gewohnt. Man hatte mich vorher gewarnt: Man darf mit ihm auf keinen Fall über die Stücke reden, dann verstummt er. Nun gut, wir haben zwei Stunden geredet, aber ich habe keine Fragen gestellt, keine! Es fiel mir schwer. Am Ende habe ich dann einfach seine Hand genommen, und so sind wir dann fünf Minuten lang still da gesessen. Das hat er verstanden.

SZ: Ich habe vor ein paar Tagen noch einmal diesen Film gesehen, den Michael Verhoeven gemacht hat, nach Ihrer Erzählung und Ihrem Drama ¸¸Mutters Courage". Wie Ihre Mutter in Budapest verhaftet wird und in den Zug nach Auschwitz kommt. Und wie sie dann bei einem Zwischenhalt vollkommen furchtlos zu diesem deutschen Offizier hingeht und ihre Freilassung fordert. Und zurückkehren kann nach Budapest. Also gerettet ist. Ich habe da sogar an das ¸¸Käthchen von Heilbronn" denken müssen. Diese sture, träumerische Zuversicht, dass alles gut werden muss. Wie war sie denn im wirklichen Leben, diese Mutter? War sie streng, war sie heiter?

Tabori: Sie war eine typische Mutter. Streng war sie nicht. Heiter war sie auch nicht. Sie hat diese unglaubliche Geschichte von ihrer Rettung aufgeschrieben, als wir zusammen in Italien waren - und es ihr langweilig war. Sie hat Glück gehabt, damals in Ungarn. Aber nach dem Krieg, nach der Ermordung meines Vaters, war sie nicht mehr der Mensch, der sie früher war. Ich merkte es sofort, als sie zum ersten Mal zu mir nach London kam. Sie sah ganz anders aus. Sie sah beleidigt aus. Sie war den Ungarn gram, weil die solche Schufte gewesen waren, in der Nazizeit. Sie ist auch niemals wieder nach Ungarn gefahren, auch nicht im Urlaub. Nach Österreich ja, nach Ungarn nein. Später, bei einem Besuch in New York, hat sie dann plötzlich gesagt, dass dieser Uschitzky oder so ähnlich in den USA sei. Dieser ungarische Polizist, der verantwortlich war für die Deportation meines Vaters. ¸¸Finde ihn", hat sie zu mir gesagt, ¸¸finde ihn und töte ihn!" Ich habe meinen Vater wirklich sehr gemocht, aber wie soll ich diesen Uschitzky töten? Später haben wir von einem Rechtsanwalt erfahren, dass sich der Mann nach Südamerika abgesetzt hatte. Ich war schon sehr erleichtert, das muss ich zugeben. Dass ich ihn nun nicht mehr finden und töten musste.

SZ: Noch einmal zu diesem 90. Geburtstag. Noch einmal die Frage: Wie wird ein Mensch mit so viel Liebe fertig?

Tabori: Sie meinen, kein Mensch hat so viel Liebe verdient? Ich habe keine Schwierigkeiten damit. Schließlich bin ich immer ein guter Junge gewesen. Schauen Sie, meine Ehen: Sie haben zehn Jahre gedauert, zwanzig Jahre, über zwanzig Jahre. Natürlich gab es eine Zeit, wo ich kein guter Junge war. Als ich einmal sechs oder gar sieben Frauen kannte, und das in einem Monat. Das war die Krise. Das war die Verzweiflung.

Aber darüber werden wir jetzt nicht reden. Reden wir lieber über das Ende. Ich mache mir nicht zu viele Sorgen um die Zukunft. Das Ende: Ich erwarte, dass es passiert. Wie es sein wird, weiß ich nicht. Vielleicht wie in einem Theaterstück: Wo ich eine Figur spiele, die auf die Bühne kommt und nicht weiß, worum es geht. Aber ich will es erfahren! Worum es geht. Ja. So könnte es sein.

SZ: Wir haben jetzt 90 Minuten Konversation auf dem Tonband. So lang wie ein Fußballspiel. So lang wie ein Woody-Allen-Film. Eine gute Zeit.

Tabori: Ich habe so lange gelebt, ich könnte Ihnen tagelang erzählen. Wir müssten dann auch vom Fußball reden. Vom ungarischen Fußball natürlich. Von diesem ungarischen Fußballspieler zum Beispiel, der immer mit weißen Handschuhen gespielt hat. Das würde Sie bestimmt interessieren. Aber jetzt hören wir auf. Ich habe nämlich zur Zeit jeden Tag ein Interview. Morgen schon das nächste. Und morgen kommt eine Frau! Ich hoffe nur, dass ich nicht in jedem Interview das selbe sage!

Während nun der Interviewer das Tonbandgerät einpackt, fragt er Tabori noch einmal nach dem unaufhaltsam heranrückenden großen Theatergeburtstagsfest. Er sei also der älteste Theatermacher der Welt. Vermutlich einer der am meisten geliebten. Ob er sich da nicht manchmal wie ein König fühle. Wie ein Theaterkönig. ¸¸Nein", sagt Tabori, ¸¸wie ein König fühle ich mich nicht". Aber sehr streng sagt er dies nicht. Der Theatermacher lächelt, und das Interview ist aus. Die Vögel vor den Fenstern singen weiter.

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