Im Interview: Christian Thielemann:"Gesponnen haben alle"

Christian Thielemann dirigiert erstmals Gustav Mahlers Achte - 100 Jahre nach der Uraufführung in München. Ein Gespräch über wilde Tiere und die Freude der Unerfahrenheit.

Egbert Tholl

Am 12. September 1910 führte Gustav Mahler seine achte Symphonie, wegen ihres enormen Aufwands "Symphonie der Tausend" genannt, in München erstmals auf, mit dem Orchester des Konzertvereins München. Gut 100 Jahre später dirigiert Christian Thielemann das Werk in der Münchner Philharmonie; es spielt das gleiche Orchester, das inzwischen Münchner Philharmoniker heißt.

Thielemann erklaert sich zu Nachverhandlungen bereit

"Ich kann das ganz gut": Christian Thielemann dirigiert 100 Jahre nach der Uraufführung Mahlers achte Symphonie in München.

(Foto: ddp)

SZ: Man dachte immer, Sie mögen Mahler nicht.

Thielemann: Ich weiß nicht, wer das aufgebracht hat. Ich habe immer nur gesagt, dass ich dagegen bin, dass Mahler so schlecht dirigiert wird. Ich habe zwar nicht viel Mahler gemacht, aber das muss man nicht persönlich nehmen. Es hat sich nicht ergeben, und manche Sachen von ihm sind mir auch fremd. Die Achte jetzt macht einen Riesenspaß.

SZ: Ist die Achte Ihnen am nächsten?

Thielemann: Überhaupt nicht. Ich kenne zwar alle Symphonien von ihm, aber da ich nur die Zweite, das Adagio der Zehnten und Lieder gemacht habe, weiß ich nicht, welche mir am nächsten ist. Das ist für mich jetzt eine Entdeckungsreise in die unbekannte Tierwelt. Wilde Tiere im Amazonas-Delta, der Urwald wächst und gedeiht, es regnet schwer, das ganze Orchester entdeckt mit - das ist eine schöne Stimmung.

SZ: Und dann so ein großes Tier.

Thielemann: Ja wahnwitzig groß. Man entdeckt mit einem Mal Dinosaurier, von denen man dachte, sie seien ausgestorben. Aber sie biegen um die Ecke und sind freundlicher, als man gedacht hat, trotz der paar wirklich schwierigen Stellen.

SZ: Ist die Achte, von der Ersten einmal abgesehen, nicht ohnehin die freundlichste der Mahler-Symphonien?

Thielemann: Da haben Sie recht. Die hat kaum das Depressive, nur ein, zwei, drei Stellen, es ist nicht übermäßig hier. Für Mahlers Verhältnisse ist das ein frohgestimmtes Stück.

SZ: Spielt es beim Dirigieren eine Rolle, dass der zweite Teil mehr oder weniger eine Vertonung der Schlussszene aus "Faust II" ist oder ist man nur mit dem Organisieren der Musik beschäftigt?

Thielemann: Der Text ist immer so eine Sache. Ich bin nicht dafür, dass man solche irren Texte vertont, aber er hat es nun mal gemacht. Nun gut. Aber mit dem Organisieren ist man gar nicht so sehr beschäftigt. Das Schöne ist ja, dass das ein Stück ist, das alle mitentdecken. Alle reißen die Augen auf und freuen sich.

SZ: Denken Sie daran, dass die Philharmoniker das Orchester der Uraufführung waren?

Thielemann: Ja klar.

SZ: Bedeutet dies eine besondere Verpflichtung?

Thielemann: Natürlich. Aber andererseits spielt man die Achte ja nicht oft. Das ist lustig: Wir sind das Uraufführungsorchester, und wenn man die Musiker fragt, ob sie es jemals gespielt haben, müssen die verneinen.

"Natürlich nehme ich Mahler ernst"

SZ: Obwohl diese Symphonie, im Vergleich zu anderen Sachen von Mahler, gar nicht so kompliziert ist.

Thielemann: Das stimmt. Vielmehr hat es etwas Volkstümliches. Der zweite Teil hat gegen Ende etwas Locker-Kindliches, etwas Heiteres.

SZ: Und der Schluss klingt nach einem echten Thielemann-Schluss.

Thielemann: Das ist ein Thielemann- Schluss. Ich kann das ganz gut. Was auffällt, ist, was für ein ausgezeichneter Kapellmeister Mahler war. Man merkt das an den Anmerkungen in der Partitur. Es gibt immer wieder Kollegen, die das nicht raffen. Das ist so organisch, was er schreibt, dass ich diese exakten Vorgaben nicht als Bevormundung empfinde. Manchmal störe ich mich ein bisschen daran, dass bei jedem dritten Takt steht, hier nicht schneller, dort nicht eilen. Allerdings muss man wissen, wie solche Bemerkungen entstehen. Das ist ja bei Wagner nicht anders. Diese Anmerkungen sind der Praxis geschuldet, und werden oft missverstanden. Wenn bei Mahler steht, "nicht eilen", wird das oft so missverstanden, dass man langsamer werden solle. Das stimmt aber nicht. Es bedeutet, dass man das Tempo halten soll, dass man nicht im Überschwang der Gefühle zu früh crescendiert, dass man Problem hat, das Tempo zu halten. Mahler weiß, was an manchen Stellen im Orchester passieren kann. Und da ist er vorausschauender Praktiker. Das hilft mir. Das finde ich sehr, sehr nett.

SZ: Und das engt nicht ein?

Thielemann: Eben nicht, weil es eben aus der Praxis kommt, weil es so natürlich ist. Bei der Lektüre empfinde ich diese Dinge als einengend, wenn ich aber die Partitur dirigiere, dann stelle ich fest: Der hat ja völlig recht.

SZ: Nehmen Sie Mahler ernst - oder ist das für Sie Kapellmeistermusik?

Thielemann: Natürlich nehme ich ihn ernst, dafür ist er zu gut. Das Spezialistentum, zu dem ich auch immer gezählt werde, hat seine guten Seiten: Man ist bei gewissen Stücken erfahren; und bei anderen eben nicht. Womöglich freue ich mich umso mehr über etwas, worin ich noch nicht so viel Erfahrung habe.

SZ: Finden Sie den spirituellen Gehalt - Mahler sprach ja davon, hier klinge das Universum - beim Dirigieren wieder?

Thielemann: Ja und nein. Komponisten und ihr Werk ist eine Beziehung für sich. Oft sind Komponisten auch nicht die besten Dirigenten ihrer Werke. Was Mahler sich beim Komponieren vorstellt, ist das eine; inwieweit ich das bis ins Letzte nachvollziehen muss, ist eine andere Frage. Ich wehre mich nicht dagegen, aber eins-zu-eins seine Empfindungen teilen kann ich nicht.

SZ: Zumal er diese Empfindungen recht groß darstellt.

Thielemann: Es tut dem Mahler überhaupt nicht gut, noch eins draufzusetzen. Das habe ich immer gesagt. Ich bin ein anderes Musiziertemperament. Ich neige dazu, gewisse Dinge sehr hervorzuheben. Bei Mahler muss man andere Feinschrauben bedienen. Die Besetzung ist exorbitant - und man muss feinste Schräubchen drehen, wo man glauben könnte, man greift tief in den Farbtopf. Der schlechte Mahler-Interpret haut drauf und freut sich, der gute domestiziert das. Es kann nicht sein, dass man da halb taub rausgeht und die Cellisten ihre Instrumente durchgesägt haben vor Intensität.

SZ: Sie meinten einmal, Mahler sei so viel, Sie selbst seien auch viel, das passe nicht zusammen.

Thielemann: Da haben Sie recht. Deswegen freut es mich, jetzt gewisse Dinge zurückzunehmen. Man kann ja nicht immer im eigenen Saft kochen. Bei Strauss ist es ja ähnlich: Da fragt man sich vielleicht, woran liegt es, dass es nicht passt, man wollte doch alles schön und richtig. Woran liegt es? Man hat zu viel gewollt.

SZ: Ist Mahlers Riesenapparat notwendig oder Spinnerei?

Thielemann: Ach Gott, gesponnen haben alle. Aber das ist klar. Wenn Künstler nicht spinnen, sind sie Langweiler. Aber man muss mit Niveau spinnen. Man kann mal austicken, aber bitte nicht bis zum rien ne va plus, man muss wieder zurückfinden. Deswegen sprach ich von der Expedition ins Amazonas-Delta. Das Flugzeug wartet aber bereits und bringt mich hoffentlich wieder heil zurück. Und dann liege ich wieder unter der gestärkten Leinenbettwäsche zu Hause. Da möchte ich nämlich gerne wieder hin. Aber dennoch will ich die Dinosaurier gerne einmal gesehen haben.

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