Im Gespräch: Rocko Schamoni:"Wir verwalten Tümpel an Dummheit"

"Wenn ich nicht darauf achte, dann macht es plopp im Hirn": Der Entertainer Rocko Schamoni spricht über Helmut Schmidt, schlechte Namen und Hochstapelei.

J.-C. Rabe

Hamburg. Schanzenviertel. Ein Altbau, vierter Stock. Im Treppenhaus riecht es nach Fisch. Die Tür ist angelehnt. Hallo? - Ja, hallo! Es ist sehr aufgeräumt, zwei Zimmer. Im Schlafzimmer: ein gemachtes Bett und ein altes, gepflegtes Rennrad. Im Wohnzimmer: eine Couch, ein verwittertes Billy-Regal mit Platten und Büchern, eine kleine abgedeckte Heimorgel. Wohnt hier jemand? Nein. Zweitwohnung. Arbeitswohnung. Auf dem großen dunklen Tisch im Wohnzimmer steht ein sehr neuer mobiler Computer. In der Küche am Wasserkocher: er. Der lustige, smarte, herzzerreißende Entertainer. Im Gesicht: dieses verschmitzt-scheue Lächeln. Also bitte.

Im Gespräch: Rocko Schamoni: "Im Areal Namenszeugung eine totale Überproduktion" - Entertainer Rocko Schamoni wechselt seine Pseudonyme wie andere ihre Oberteile. Über eine Tätowierung sollte man da als Fan besonders lange nachdenken.

"Im Areal Namenszeugung eine totale Überproduktion" - Entertainer Rocko Schamoni wechselt seine Pseudonyme wie andere ihre Oberteile. Über eine Tätowierung sollte man da als Fan besonders lange nachdenken.

(Foto: Screenshot: rockoschamoni.de)

Rocko Schamoni: Was dagegen, wenn ich rauche?

SZ: Gar nicht.

Schamoni: Angenehm.

SZ: Begegnen Sie denn so vielen, die es stört?

Schamoni: Es ist ja nicht umsonst so, dass sich die Gesetzeslage verändert hat.

SZ: Lässt man Sie auf der Bühne noch rauchen?

Schamoni: Ich fahre an keinen Ort, wo ich es nicht darf.

SZ: Helmut Schmidt ist ...

Schamoni: ... ja! Mein Freund Jacques Palminger saß im Zug von Berlin nach Hamburg im Speisewagen. Drei Tische weiter saß Helmut Schmidt und fing einfach an zu rauchen. Da ist natürlich schon seit zehn Jahren totales Rauchverbot. Dann kam der Schaffner und sagte: "Entschuldigung, also egal, wer Sie jetzt sind, aber Sie können hier nicht rauchen." Und Helmut Schmidt antwortete: Aber ich kann hier ja nirgendwo rauchen." - "Nein, können Sie nicht." - "Ja, das geht leider nicht." Dann hat er einfach weitergeraucht. Sehr imposant.

SZ: Und der Schaffner?

Schamoni: Der ist gegangen. Was sollte er tun? Helmut Schmidt rausschmeißen? Also, dann zünde ich mir jetzt auch mal eine an ...

SZ: Herr Schamoni, ich würde mit Ihnen gerne über Hochstapelei sprechen. Sie hießen schon Roddy Dangerblood, 14 Euro oder Bims Brom ...

Schamoni: Hm.

SZ: Wie wichtig ist ein guter Name?

Schamoni: Also es gibt Leute, die haben von Haus aus das Glück, einen guten Namen zu haben oder sie haben sich sehr früh einen guten erdacht, das weiß man häufig nicht so genau. Das gilt vor allem für französische oder italienische Modehersteller. Die haben die Namenswelt geprägt. Deutsche Firmen haben versucht, das nachzumachen, in Form von so klangvollen Namen wie Bruno Banani. Das kommt natürlich niemals an das Original aus Italien ran.

SZ: Nein.

Schamoni: Aus der Sicht der Tradition, aus der ich komme, ist ein guter Name erst mal das Allerwichtigste. Mit dem Namen beginnt die Geschichte. Der Name bestimmt durch sein Klangbild und seinen Inhalt alles, was danach kommt. Deswegen haben wir uns schon in meinem Heimatdorf Lütjenburg eigene Namen gegeben. Bei mir kommt aber noch etwas anderes dazu. Viele Menschen haben spezielle Fähigkeiten. Die Schwerpunkte in den Gehirnen der Menschen sind ganz unterschiedlich verteilt. Ich habe sonderbarerweise in dem Areal, in dem Namenszeugung angelegt ist, eine totale Überproduktion. Wirklich, ganz im Ernst.

SZ: Welcher fällt Ihnen denn jetzt im Moment ein?

Schamoni: Jetzt natürlich gerade keiner, wenn ich darüber rede, ist der Bereich komplett belegt. Aber es ist tatsächlich so, dass ich schon sehr früh damit angefangen habe, über Namen nachzudenken und mir auch immer welche kamen. Das hat sich über die Jahre überhaupt nicht verändert. Es ist so, als wenn am Tag aus so einer Art Ursumpf ständig Blasen aufsteigen. Aus diesen Blasen kommen die Namen. Viele von diesen Namen sind richtig schlecht. Aber ich habe jetzt vor einem Jahr angefangen, eine Liste zu machen, um wenigstens festzuhalten, was an Überproduktion da eigentlich stattfindet. So wie anderen große Sinfonien im Schlaf kommen, fallen mir Namen zu.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was passiert, wenn Schamoni an seinem Glückstee nippt.

Beim Schorsch in der Badewanne

SZ: Also wenn wir uns jetzt vielleicht kurz entspannen und noch mal hier an dem Glückstee nippen, dann ...

Schamoni: ... dann würde mir wahrscheinlich, aufgrund der Tatsache, dass ich es versuche zu erzwingen, ein schlechter Name einfallen. Entscheidend ist der Automatismus. Wenn ich es erzwinge, kommt, ähh ...

SZ: Ja?

Schamoni: Francesca Baldressoni.

SZ: Hm.

Schamoni: Ja, das sagt einem gar nichts. Aber wenn ich nicht darauf achte, dann macht es plopp im Hirn. Und dann sind Namen dabei, die sehr sonderbar sind.

SZ: So wie Bims Brom?

Schamoni: Zum Beispiel. Oder Rocko Schamoni. Ich saß bei Schorsch (Kamerun) in der Badewanne und auf einmal war ich angefüllt von diesem Namen. Der klang so lange nach in mir, dass ich ihn als Überklingelschild gewählt habe.

SZ: Obwohl IBM Citystar auch sehr schön ist.

Schamoni: Auf den war ich stolz, weil er so technisch klang. Es gab in meiner Karriere ein paar Vorbilder wie Epic Soundtrax, ein englischer Musiker, der auch bei einer Band namens Swell Maps gespielt hat, die für mich einer der wichtigsten Einflüsse war. Epic Soundtrax fand ich damals schon wahnsinnig gut. Auf der Platte stand: Gitarre - Epic Soundtrax. Ich dachte erst, das sei eine Bezeichnung für irgendein Gerät. So kam ich auf IBM Citystar. Klingt wie ein Mixer oder irgendein komisches Küchengerät.

SZ: Was für ein Bild sollte mit dem Namen entstehen?

Schamoni: Ein kryptisch-technisches. Es sollte sehr unpersönlich klingen.

SZ: Warum?

Schamoni: Ich hatte damals mit Schorsch und drei anderen Freunden die Band Motion und wollte abtauchen. Ich wollte meinen alten Namen Rocko Schamoni loswerden.

SZ: Wann war das?

Schamoni: 1993. Ich hatte gerade den ersten Teil meiner Karriere aufgrund von Erfolglosigkeit beendet und eingesehen, dass mit meinem Namen kein Staat zu machen ist. Mit dem technischen Namen IBM Citystar wollte ich erreichen, dass niemand feststellen kann, dass ich in der Band bin. Weil wenn das jemand gemerkt hätte, hätte mein Geld und Erfolg abweisender Neopren-Anzug sofort jede Form von Anerkennung von dieser Band ferngehalten. Ich hatte solche Angst vor dem Misserfolg meiner bisherigen Karriere, dass ich lieber abgetaucht bin.

SZ: Diente dazu auch Bims Brom?

Schamoni: Nein, mir fallen häufig auch extrem alberne Namen ein. Das war einer davon. Es kommen darin zwei Substanzen zusammen, die nicht zusammengehören: Bimsstein und Brom, also ein Gas. Das passt.

SZ: Das war nach der IBM-Citystar-Phase?

Schamoni: Ja, IBM Citystar war ich nur von 1993 bis 1995. Habe übrigens damals dafür auch Komplimente bekommen. Irgendwann ist ein Name aber abgetragen wie ein alter Anzug. Dann müssen andere Namen her.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Hochstapelei funktioniert.

Erkennbarkeit, die ein Leben lang hält

SZ: Ohne einen guten Namen keine gelungene Hochstapelei?

Schamoni: Für Hochstapelei ist es wichtig. Für eine ganz normale Karriere ist es nicht nötig. Dafür braucht man eine Erkennbarkeit, die ein Leben hält. Da darfst du nichts verändern.

SZ: Cat Stevens nannte sich irgendwann Yusuf Islam.

Schamoni: Ja, der hat sich mit dem zweiten Namen einen genommen, der viel größer ist als der erste. Da hat er gleich eine ganze Religionsgemeinschaft vereinnahmt. Ziemlich clever. Er will sich jetzt aber wieder zurückbenennen, oder?

SZ: Sieht so aus.

Schamoni: Ein Verrat der Religion! Jetzt wird der Bannstrahl der eigenen Religion über Salman Rushdie auf ihn selbst zurückfallen ... Aber wie gesagt: Für Karrieren, die sich mit dem Prinzip Erfolg auf eine positive Weise auseinandersetzen, sind ehrliche Namen unumgänglich. Da ich aber ein gespaltenes Verhältnis zum Erfolg habe, kann ich es mir erlauben, mich immer wieder zu tarnen und mich ...

SZ: ... auch einfach mal 14 Euro nennen?

Schamoni: 14 Euro fand ich interessant, weil "50 Cent" (Name eines sehr erfolgreichen Gangster-Rappers) so wahnsinnig gut understated war. Da habe ich mir gedacht: Das ist schon sehr wenig, da komme ich jetzt mal ins Spiel und downe ihn!

SZ: Hat er es überhaupt gemerkt?

Schamoni: Ich habe versucht, es an ihn heranzutragen und immer wieder lautstark betont, dass ich mehr wäre als er. Es kam aber keine Reaktion. Wahrscheinlich aus Schiss. 14 Euro sind ja doch einiges mehr ist als 50 Cent. Immerhin 28-mal so viel!

SZ: Einschüchternd.

Schamoni: Allerdings.

SZ: Es wurde zuletzt ja in der Finanzkrise eine Menge hochgestapelt. Der Amerikaner Bernie Madoff zum Beispiel war sehr, sehr gut darin. Obwohl "Bernie" ja doch sehr ranschmeißerisch klingt?

Schamoni: In der High-Society- und Glamourwelt und in der Rennfahrer- und Adeligenwelt gibt es ja häufig Namen, die den ganzen Anspruch wieder auf ein witzig-kumpeliges Niveau bringen sollen. Es geht dabei vermutlich um eine gewisse Laisser-faire-ität. Madoff heißt vermutlich ganz anders. Bernhard wahrscheinlich.

SZ: Unser neuer Wirtschaftsminister Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg will nicht gerade kumpelig ankommen.

Schamoni: Schrecklicher Name. Heißt er wirklich "von und zu"?

SZ: Ja, ja, alter fränkischer Adel.

Schamoni: Hm, komischer Typ. Weiß nicht, was ich von dem halten soll. Ein wahnsinniger Blender, glaube ich.

SZ: Dafür hat er aber doch wieder einen sehr guten Namen! Für Aktionen Ihres Telefonstreich-Trios "Studio Braun" mit Jacques Palminger und Heinz Strunk wäre er doch ideal.

Schamoni: Für die Telefonate wäre er sehr gut, das stimmt. Wir haben am Telefon ja schon Adelstitel aberkannt. Gab wahnsinnigen Ärger. Die haben alle mit letzter Kraft um ihren Titel gekämpft.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Hochstapler meist verspielt sind.

Kinskis geplantes Flimmern

SZ: Worin unterscheiden sich Ihrer Ansicht nach Schwindeln und Hochstapelei?

Schamoni: Schwierig. Hochstapelei hat immer etwas mit einer gewissen Verspieltheit zu tun, die man in bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens braucht. Alle anderen wissen dann aber auch, dass sie Teil eines Spiels sind. Rockstars sind immer Hochstapler, DJs häufig auch. Leute, die auf Bühnen stehen, müssen hochstapeln. Schwindeln ist ein elementarer Begriff, der tatsächlich den Betrug an sich verhandelt. Wenn ein Schwindler auf einer Bühne steht, dann würde ich immer denken, dass das kein Schauspieler ist, sondern ein Politiker. Denn es geht um etwas Elementares, das dem Publikum vorenthalten werden soll. Bei der Art Hochstapelei, die ich präferiere, wissen eigentlich alle, worum es geht.

SZ: Wie genau darf man beim Hochstapeln wissen, was man tut?

Schamoni: Man muss es extrem genau wissen. Es geht darum, etwas ganz Bestimmtes zu transportieren. Und es geht darum, etwas zu verbergen. Ein sehr genaues Bewusstsein von sich selbst ist nötig, ein präzises Bewusstsein von dem, was man erreichen will, und ein Bewusstsein von dem Rahmen, in dem man sich bewegt. Entscheidend sind Genauigkeit und Selbstaufsicht. Schlechte Hochstapler oder Künstler sind oft deshalb schlecht, weil sie von sich ungenaue Bilder entwerfen. Interessante Künstler tun das auch, aber diese ungenauen Bilder zeichnet ein geplantes Flimmern aus. Kinski konnte dieses Flimmern immer erzeugen, Schlingensief kann es, Helge Schneider auch.

SZ: Haben Sie manchmal das Gefühl, dass all das in Deutschland keine Tradition hat. Eigentlich sogar völlig fehl am Platz ist?

Schamoni: Absolut. Warum das so ist, ist schwer zu sagen. Vielleicht durch die lange Unterbrechung der Unterhaltungstradition in Deutschland durch der Zweiten Weltkrieg und den Faschismus.

SZ: Bezieht sich der Humor der Gegenwart aber nicht doch immer auf viel kürzer zurückliegende Vorbilder. Sind nicht Rudi Carrell und Dieter Bohlen das viel größere Problem?

Schamoni: Nein. Weil es keine eigene Tradition gab, wurden in den Achtzigern und vor allem in den Neunzigern amerikanische Unterhaltungsmodelle schlecht abgekupfert. Ich sehe mir lieber Sachen wie "Autsch - die Pannenshow" an. Wenn jemand auf die Fresse fliegt, ist das wenigstens ein echter Moment.

SZ: Ihr Humor nimmt von vornherein in Kauf, kläglich zu scheitern - und tut es dann auch oft. Ein solcher Würdeverlust wird in Deutschland ungern gewagt.

Schamoni: Wenn jemand am anderen Ende der Leitung von Studio Braun stärker gewesen ist, hat er die Show in der Hand gehabt. Unsere größte Stärke ist, dass wir zu unserer Schwäche stehen. Also die Schwäche, die wir in dem Moment wirklich haben.

SZ: Sie heucheln nie?

Schamoni: Nein. Ich glaube, es geht beim Vergleich von Menschen viel seltener um deren Klugheit, als um deren Dummheit. Die Menschen sind im Großen und Ganzen viel dümmer, als wir uns das immer wieder eingestehen wollen. Wir verwalten alle vergleichsweise große Tümpel an Dummheit.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum es wundervoll ist, falsch verstanden zu werden.

"Erfolg ist ein Fingerzeig Gottes."

SZ: Ist es deprimierend, als Komiker falsch verstanden zu werden?

Schamoni: Überhaupt nicht. Es ist wundervoll.

SZ: Auch wenn an ganz falschen Stellen gelacht wird?

Schamoni: Wenn Leute an Stellen lachen, an denen ich es nicht vermutet hätte, bin ich beschämt. Bei meinen Lesungen kommt das ab und zu vor. Ich frage mich dann immer, ob ich an der Stelle so lasch geschrieben habe, dass man das schon als Witz verstehen kann. Es war ernst gemeint!

SZ: Bei Ihren Lesungen aus "Dorfpunks" fällt auf, dass sich nicht alles Vorgetragene mit dem deckt, was im Buch steht, obwohl Sie zweifelsfrei daraus vorlesen.

Schamoni: Bei Lesungen geht es weniger um den Inhalt als um den Flow. Es ist eine Art Gesang. Metrik und Tonfall sind entscheidend. Man spürt manchmal, dass etwas hinzugefügt werden kann. Es geht nicht um inhaltliche Verbesserungen, sondern um Verbesserungen der Notation.

SZ: Ärgert Sie eigentlich manchmal, dass Sie als Musiker und Sänger nie so erfolgreich waren wie jetzt als Buchautor?

Schamoni: Ja. Ich habe mir natürlich gewünscht, dass meine Bücher Erfolg haben. Aber dass ich plötzlich Hallen ausverkaufen konnte, in denen ich vor zwei Jahren vor dem halben Publikum mit einer sechsköpfigen Band gespielt habe - dass finde ich auch ungerecht. Ehrlich.

SZ: Kommen Sie, das ist nicht Ihr Ernst.

Schamoni: Die Gagen sind jetzt natürlich viel besser. Ich verdiene jetzt das Dreifache und muss mit niemandem teilen. Es ist aber eben auch traurig. Ich sitze hinterher allein backstage und keiner feiert mit mir. Aber was soll ich tun?

SZ: Den Ruhm nutzen und wieder mit Band touren?

Schamoni: Dann müsste ich wahrscheinlich sofort wieder in die kleinen Hallen. Der Erfolg ist ein Fingerzeig Gottes.

SZ: Wohin?

Schamoni: Es hat mir jemand gezeigt, dass das, was ich zwanzig Jahre lang vorhatte, nicht das war, wofür man mich belohnen würde. Bitter. Aber ich habe aufgrund der nicht vorhandenen Klarheit über meine eigene Person eben sehr viel getestet. Und da sind ein paar wirklich gute, wagemutige Sachen dabei herausgekommen und eine ganze Menge Schrott.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum es heute Leute wie Dieter Bohlen braucht.

Noch ein Britzln in der Luft

SZ: Sie hatten eine Schlagerphase.

Schamoni: Ja, aber als ich den Schlager touchiert habe, gab es noch kein Schlager-Revival. Mein damaliger Produzent Dirk Felsenheimer (Bela B. von den Ärzten) hat Michael Holm angerufen und wir haben mit ihm "Mendocino" aufgenommen. Seit sechs Jahren hatte Holm nichts mehr gemacht. Schlager war tot damals, aber es war noch ein Britzeln in der Luft, man konnte damit noch provozieren. Es hat aber überhaupt nicht funktioniert. Es wurde nur die Originalversion wieder gespielt. Und Dieter Thomas Heck rief angeblich Michael Holm an und fragte ihn, was für einen Quatsch er da mit diesem Idioten Schamoni mache. Das gehöre sich nicht. Zwei, drei Jahre später ging das Revival los. Beim riesigen Schlagermove in Hamburg stand ich an der Straße und habe mich mitschuldig gefühlt.

SZ: Da waren Sie aber schon nicht mehr im Schlagergeschäft?

Schamoni: Ich war draußen, möchte aber nicht alle Schuld von mir weisen.

SZ: Wie weit kommt man im Pop heute noch mit Provokationen?

Schamoni: Die Provokation, mit der ich aufgewachsen bin und die von den Sex Pistols ausging, ist so heute nicht mehr transportierbar. Darüber regt sich keiner mehr auf. Heute braucht es Leute wie Dieter Bohlen. Die provozieren, indem sie Gebäude einrennen, die bis dahin zu Recht unbegehbare Zonen waren. Es wird dann menschenverachtend. Ansonsten gibt es in unseren Breitengraden nicht mehr viel zu holen. In Amerika kann man mit Sexualität noch weit kommen und in der ganzen muslimischen Welt sowieso. Ich würde mich da persönlich jetzt nicht vorwagen, aber ich würde mich freuen, wenn einer damit anfangen würde.

SZ: Halten Sie die allgemeine Abgeklärtheit in Bezug auf Provokationen für einen Fortschritt oder einen Rückschritt?

Schamoni: Sowohl als auch. Die Polizisten zum Beispiel, die ich noch erlebt habe, waren ganz harte Nachkriegstypen. Die haben uns Punks noch richtig verachtet. Die Polizisten, mit denen ich heute wegen unseres Pudel Clubs auf der Reeperbahn zu tun habe, haben eine Pop-Vorbildung. Ich saß mal vor zwei Polizisten, die kannten sogar Studio Braun. Gleichzeitig verschwimmen so auch Grenzen, die erkennbar bleiben sollten. Die Mächtigen haben in den letzten zwanzig Jahren gut aufgepasst und gelernt, wie man sich am besten maskiert.

SZ: Was halten Sie von dem Tarnnamen "Angela Merkel"?

Schamoni: Ich vermute, dass sie ... - also ich weiß nicht, wie sie sonst heißt, aber ich halte ihn für einen sehr guten Tarnnamen. Er wirkt, alle glauben daran. Keine Ahnung, wer dahintersteckt.

Der Sänger, Schauspieler, Entertainer, Schriftsteller, Musiker, Komiker und Clubbetreiber Rocko Schamoni wurde unter dem Namen Tobias Albrecht 1966 in Lütjenburg / Schleswig-Holstein geboren. Karrieren als Post-Punk-Musiker und Schlagersänger begannen Ende der 80er Jahre in Hamburg und scheiterten. Mehr Erfolg hatte er als Mitgründer und Besitzer des Nachtlokals Pudel Club auf der Reeperbahn und seit Ende der 90er - neben Heinz Strunk und Jacques Palminger - als Teil des famosen Telefonstreich-Trios "Studio Braun". "Risiko des Ruhms" (Rowohlt) war 2000 sein erster, "Sternstunden der Bedeutungslosigkeit" 2007 sein dritter und vorerst letzter Roman. 2004 erschien der Bestseller "Dorfpunks", die Erinnerungen an seine Zeit als holsteinischer Punk Roddy Dangerblood. Am Hamburger Schauspielhaus feierte die von "Studio Braun" inszenierte Theaterfassung 2008 Premiere. Die Verfilmung des Buches von Lars Jessen startet am Donnerstag im Kino.

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