Illusionsmaschine Zirkus:Logenplatz in der Fata Morgana

Der Zirkus ist 5000 Jahre alt. Wer ihn für ein Auslaufmodell hält, liegt falsch: Gerade in der multimedialen Welt brauchen wir seine Tagträume. Und die Besucherzahlen wachsen.

Eva Karcher

Gibt es ein Kind auf dieser Erde, das nicht irgendwann einmal Leopardenbändiger oder Seiltänzerin werden wollte? Erheitern uns Clowns mit ihren roten Knollennasen, sichelförmigen Breitmaulmündern, kalkweiß grinsenden Gesichtsmasken und albernen Zuckerhütchen nicht irgendwie doch immer wieder, obwohl wir ihr Grimassen-Repertoire längst auswendig kennen? Und stockt uns, längst erwachsen geworden, nicht trotzdem jedes Mal der Atem, wenn Trapezkünstler schwindelerregend hoch unter der Zeltkuppel todesmutige Salti mortali wagen?

Die Aura des Zirkus ist eine archaische wie anarchische, ihre Bilder sind unauslöschlich im kollektiven Archiv der Imagination verankert, alle Raumgrenzen und Zeitsprünge bis in die Gegenwart überdauernd.

Jeder von uns trägt seinen Zirkus gewissermaßen in sich, tröstende, erheiternde, aufwühlende, sinnliche Bilder, die eine Welt voller Anmut und Sonderbarkeit heraufbeschwören.

Gegenwelt ohne Schwerkraft

Ihr Zauber wirkt trotz oder vielleicht gerade wegen all der folkloristischen Klischees, die diese Bilder auf Gemälden, Zeichnungen, Plakaten wie Fotos, Filmen und Fernsehübertragungen inszenieren: eine Gegenwelt, in der die Gesetze der Schwerkraft ebenso aufgehoben zu sein scheinen wie die Unterschiede von Herkunft, Sprache, Geschlecht, Alter und Statur.

Der Zirkus, dessen Wurzeln, über fünf Jahrtausende alt, bis in das antike Ägypten und China zurückreichen, wo bereits Akrobaten, Magier und Jongleure auftraten, erschafft ein Terrain für Tagträume, die perfekte Projektionsfläche für die unsterblichste aller Sehnsüchte, die nach einem Leben außerhalb der Zwänge und Verpflichtungen des nivellierenden Mittelmaßes der Vernunft.

Wo, wenn nicht hier, werden Außenseiter als "Wunder" angekündigt, boxen Kängurus mit Champions, fahren Bären Rad, springen Löwen durch brennende Reifen und verschlucken Jumbo-Elefanten kleine Männer?

Universum der Körperexzentrik

Politisch inkorrekt bis in die Haarwurzeln, bündelt und verschmilzt der Zirkus die Schönen und die Biester, die Riesen und Zwerge, Schlangenmenschen und Dresseure zu einem unerhörten Universum der Körperexzentrik. Und gaukelt mit dieser unwiderstehlich grotesken Melange aus Menschen und Tieren in einer Karawane aus Planwägen, Zelten und Zügen unermüdlich von Ort zu Ort, wie in einer Endlosschleife rund um den Globus.

Doch dieses soziokulturelle Modell des Zirkus, so anachronistisch es auf den ersten Blick anmuten mag, ist ein gerade im 21. Jahrhundert wieder hochaktuelles.

Nomadisch und multikulturell, vernetzt der Zirkus Seelenverwandte zu einer globalen Großfamilie und bietet ihnen eine Wahlheimat für ihre Bedürfnisse und Visionen.

Exotik und Profiterwartung

Zwar sind die gegenwärtig populärsten Zirkusse logistisch maximierte, medientaugliche Hightech-Spektakel mit raffinierter Lichtchoreographie und hoher Profiterwartung, doch locken auch sie die Zuschauer noch immer und vor allem mit der knisternden Exotik ihrer Live-Darbietungen.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie sich der Zirkus modernisiert hat.

Logenplatz in der Fata Morgana

Die "bis auf den Grund ehrliche Darbietung ohne doppelten Boden", die der Philosoph Ernst Bloch dem Zirkus attestierte, sie gilt nach wie vor als oberstes Regieprinzip und wirkt als dringend benötigtes Gegengift gegen all die sterilen Disneylands, Vergnügungsparks aus der Retorte und die autistische Tristesse der Second-Life-Virtualität.

Dass unser Verlangen nach der größten Show der Welt nie ganz gestillt werden kann, beweist nun auch ein soeben erschienener Band des Kölner Taschenverlags, "The Circus. 1870-1950".

Theatralische Erzählungen zusammenhangloser Szenen

Aktuelle Statistiken verzeichnen steil wachsende Besucherzahlen auf den Zirkus-Festivals. Nicht nur als "Social Event" für den Jetset wie das 32 Jahre alte monegassische Festival, auf dem die Elite der Artisten mit den Oscars der Branche ausgezeichnet wird, locken die circensischen Spiele der Gegenwart die Massen, sondern auch wegen neuer artistischer Sensationen und einer Choreographie, die Szenen nicht mehr zusammenhanglos aneinanderreiht, sondern sie in eine theatralische Erzählung einflicht.

Am wohl erfolgreichsten bisher hat der 1984 im kanadischen Quebec von zwei Straßenmusikern gegründete Cirque du Soleil, inzwischen in Las Vegas fest etabliert, die Standards mit glamourösen, Dramaturgie und Atmosphäre von Tournee zu Tournee variierenden Shows erneuert.

Europäische Impresarios wie der unverwüstliche Bernhard Paul mit seiner Roncalli-Manege und später André Heller mit "Afrika! Afrika!" experimentieren mit Entertainment, schillernd zwischen surrealer Exotik und naiver Märchenseligkeit und propagieren zudem die dem Zirkus von Anfang an eingeschriebene Urbotschaft friedlicher Völkerverständigung als idealistische Mission.

Familienbetriebe beharren auf konventionelle Programme

Legendäre Dynastien wie der bereits seit 123 Jahren überlebende Berliner Zirkus Busch-Roland; Sarrasani, 1901 in Dresden vom Clown Hans Stosch gegründet; Knie, 1919 am Zürichsee eröffnet oder der 102-jährige Circus Krone mit seiner festen Arena in München beharren dagegen als Familienbetriebe auf dem Charme eher konventioneller Programme und traditioneller Looks.

Jener Ästhetik eben, die ein ehemaliger britischer Militärausbilder, Sergeant-Major Philip Astley 1768 erfand, als er begann, seine Reitkunst unweit der Londoner Westminster Bridge dem Volk vorzuführen.

Bald garnierte er sie mit burlesken Zwischenszenen von Harlekins und Herkulessen und wurde so, zwanzig Jahre vor der Gründung der Vereinigten Staaten, zum Erfinder des modernen Zirkus. Die USA, genauer die Unternehmer-Pioniere Phineas Taylor Barnum und James A. Bailey professionalisierten Astleys Zirkusidee rund ein Jahrhundert später mit ihrer Compagnie "Barnum&Bailey, The Greatest Show on Earth".

Verklärung um jeden Preis

In Illusionsmaschinen wie dieser blieben die harten Existenzbedingungen des Schaustellerlebens konsequent ausgeblendet. Es ging und geht immer um Verklärung, selbst um den Preis des Kitsches. Denn mit ihr steht und fällt die Identität des Zirkus, wie schon der deutsche Publizist Siegfried Kracauer wusste: Er ist nichts mehr und nichts weniger als "eine handfeste Fata Morgana".

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: