Hundert Jahre russische Revolution:Stimmen von 1917

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Briefe und Tagebücher aus Russland (XII): Ein Monat im Leben des Petersburger Dichters Rurik Iwnew, der geradezu frenetisch Tagebuch schrieb und zugleich frommer Christ und Symapthisant der Bolschewisten war.

Was schrieben Menschen im Russland von 1917 in ihre Tagebücher und Briefe, ist die Ausgangsfrage dieser Serie. Der Dichter Rurik Iwnew (bürgerlicher Name Michail Kowaljow) führt 1917 ausführlich Tagebuch, an manchen Tagen - und Nächten - schlägt er sein Notizheft mehrmals auf. Hier einige seiner Aufzeichnungen aus dem Petersburger Spätsommer. Iwnew ist fromm, sympathisiert aber mit der bolschewistischen Partei. Nach der Oktoberrevolution wird er Teil des Systems - als Sekretär von Anatoli Lunatscharski, dem Volkskommissar für das Bildungswesen.

30. August, tagsüber

Ich beobachte das Publikum (in der Tram, in den belebten Straßen). Wenn das Russland ist, soll es untergehen. So ein Russland braucht kein Mensch.

31. August

Straßenbahn Nummer 8, Blagoweschenkskaja Platz, ein verregneter Tag. Neben mir stand ganz nah ein Mensch (ein ganz gewöhnlicher) mit schwarzem Schnauzbärtchen und braunen Augen. Pummelig. Mittleres Alter. Auf einmal hab ich mich geekelt. Vor allem vor seinen Augen. Etwas an ihm hat mich stark an eine Küchenschabe erinnert (schwarz und braun!)

3. September, vormittags

In der lutherischen Kirche auf der Wassili-Insel. Da sitzt eine Deutsche. Eine gutherzige, irgendwie zugespitzte Frau, im Gesicht ein bisschen (ganz kleines bisschen) Arglist. Sie beugt sich zu ihrer Nachbarin, lächelt still, guckt ins Evangelium, liest. Und ich frage mich: Wenn die Deutschen unsereinen schlagen, jagen, Riga einnehmen, freut sie sich (die gutherzige Deutsche) für die Ihren oder nicht? Ich weiß es ziemlich sicher: Ja, sie freut sich. Wobei, woher soll ich's so genau wissen, ich weiß gar nichts. (Das quält mich jetzt). Menschen gehen aufeinander los. Jeder hat seine "gute Deutsche", die sich für ihn freut und sich über das Leid seines Feindes freut. Und sie verliert nicht ihre Gutherzigkeit, während sie sich über das fremde Leid freut.

5. September

Alles Lebendige isst (frisst) einander - das ist ein Gesetz, das wie ein Blitz den ganzen Himmel durchzuckt, vom Beginn des Anfangs bis zum Ende des Endes. Lektüre der Zeitung: Ein schrecklicher Vorfall, Ratten haben in der Leichenhalle eines Krankenhauses eine Leiche aufgegessen (nur die Beine blieben). Wie im Märchen: "Es blieben bloß Hörnchen und Füßchen." Furchtbar. Furchtbar.

7. September

Plot für eine Erzählung: Ein alter Pförtner im Haus eines Ministers. Die Revolution naht ... 25. bis 26. Februar: Umsturz, neuer Minister. Der Pförtner erfährt, dass der Neue ein ehemaliger Terrorist ist, ein Mörder quasi. Das beschäftigt ihn sehr, er teilt sich seiner Familie mit. Der Familie ist es egal. Der Sohn sagt, der alte Minister sei vor der Revolution auch ein Mörder gewesen, weil er einer Regierung angehört habe, die auf Studenten und Arbeiter schießen ließ. Der Pförtner sagt: Das ist was anderes, da war alles auf dem Papier, aber dieser hier hat echtes, lebendiges Blut an den Händen. Der Pförtner hält es nicht aus und macht sich auf eine Wanderung (verlässt die Familie nach langem Überlegen: Zimmerchen, Bett, Dämmerung, Lämpchen vor den Ikonen, der Heiland), er will für den Mörderminister beten.

Wie viele Lügen es doch gibt, in uns und außerhalb! Oder vielleicht gibt es weder Lüge noch Wahrheit (voneinander getrennt), sondern es gibt nur eine Masse LW, wo Lüge und Wahrheit ineinanderfließen, aber nicht zu gleichen Anteilen: Mal überwiegt L, mal W, und wir rasen in unserem Boot über dieses dunkle, schreckliche Meer - mal näher an L, mal an W. Und nur Gott ist eins. Gott, oh Herr! Sei mir Sünder gnädig.

8. September, morgens,

beim Sortieren der Papiere.

Senator N begrüßt mich (wir sehen uns zum ersten Mal) und guckt aufmerksam und wohl herablassend auf meine helle Hose. (Nun ist Herbst, die Hose passt wohl nicht zur Jahreszeit). Ich habe mich geniert. Und gespürt, wie stark ich doch von der Meinung des Salons abhänge.

8. September, abends

Gelesen, wie Matrosen auf dem Kreuzer Petropawlowsk in Helsingfors ihre Offiziere hingerichtet haben. Den Fähnrich Kandyba haben sie an Händen und Füßen gefesselt, ein Matrose hat dem Gefesselten sein Bajonett ins Gesicht gerammt. Als ich das las, spürte ich, wie das Tier in mir aufwachte. Auf einmal - neben dem Entsetzen, dem Schmerz, dem schrecklichen Mitleid - verspürte ich eine lüsterne Neugier. Ich konnte vor mir nicht verbergen, dass ich bei dieser Hinrichtung gerne dabei gewesen wäre. Diese Fesseln, die gefesselten Hände, Füße, das Bajonett im Gesicht haben mich gleichsam geblendet, benebelt. Meine schwere und sündige Seele! Und trotzdem schlägt da diese Hoffnung in meiner Brust, dass Gott mich nicht verlassen wird. Herr, verzeih, verzeih, verzeih mir.

10. September, abends

(mit einem schweren, leeren Herzen)

Morgens hat jeder Mensch unschöne Lippen. Wenn ich morgens auf Lippen gucke, verstehe ich nicht, wie man "das" tun kann. Und abends vergisst man wieder alles. Und so jeden Tag. Ich bin dann bereit, alle Lippen zu küssen.

13. September, morgens, beim Rasieren

Trotz all des Schreckens, der um mich herum herrscht, trotz der Erniedrigung der russischen Nation und Russlands Schmerz bin ich glücklich, Russe und orthodoxer Christ zu sein.

15. September, bei der Lektüre

von Platons "Gastmahl"

Kolja (Iwnews Bruder - Red.) schnitt aus einer alten Zeitschrift ein Porträt von Nikolai II. aus und hängte es bei mir im Zimmer auf. Ich hab mich (weiß nicht warum) aufgeregt und das Porträt in Stücke gerissen. Und mich sofort für diese niedrige Gefühlsregung geschämt. Für dieses hastige Anbiedern an irgendjemanden.

19. September, abends

"Scheusal". Erzählung: Ein buckeliger, hinkender, unglücklicher Mensch macht Notizen (Tagebuch), in denen sich alle Schrecken seiner dunklen und kranken Gedanken zeigen, seine unnatürlichen Wünsche, seine Boshaftigkeit usw. Wie viel Dreck und Niedertracht, wie viel sinnlose Gewalt es doch gibt! Vor dieser Niedertracht verblassen all meine sündigen Gedanken.

21. September

Je ferner von der Kindheit, desto primitiver sind wir. In der Kindheit kommen wir mit den außergewöhnlichsten Geheimnissen in Berührung (Geraschel, Stimmen), wir sehen als Kinder das, was wir jetzt nicht mehr ohne Weiteres erkennen.

26. September, tagsüber

Nach dem Spaziergang: Ich sitze, lese und esse Karotten. Wie fremd mir doch im Grunde alle Menschen sind; vor allem die Jugend. (Iwnew ist damals 26 Jahre alt - Anm. d. Red.)

Aus dem Russischen: Tim Neshitov

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