Horst Herold:Gefangen in den Rastern des Staates

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Viele Jahre galt der frühere BKA-Chef als suspekte Person - doch heute huldigen selbst seine Gegner dem fast Achtzigjährigen als Visionär

Heribert Prantl

München, 16. Oktober - Der Dank des Vaterlands ist so eine Sache. Manche warten auf ihn ein Leben lang und grämen sich, wenn sie ihn nicht bekommen. Manche bekommen ihn, auch wenn sie ihn nicht verdienen. Manche schließlich verdienen ihn, bekommen ihn auch - aber auf eine Weise, die zynischer nicht sein könnte.

Horst Herold am 15. Juli 1974 im Bundeskriminalamt in Wiesbaden vor einem Elektronen-Rastermikroskop, das zur Spurensicherung eingesetzt wird. (Foto: SZ v. 17.10.2002)

Das Fest beginnt. Der Grußredner tut höflich seine Pflicht, das Publikum tut das auch, die Liste der Ehrengäste ist lang. Gefeiert wird das 50- jährige Jubiläum des Bundeskriminalamts im großen Kursaal des Kurhauses von Wiesbaden: Spärliches Klatschen bei Otto Schily. Schütterer Applaus für die Länderinnenminister, für die diversen Präsidenten, Direktoren und Abgeordneten. Wie das halt so ist bei solchen Gelegenheiten. Aber auf einmal ist die wattierte Höflichkeit zu Ende. Ungestümer Beifall bricht los, und er hört schier nicht mehr auf: Da wird nicht nur einer begrüßt, da wird einer gefeiert. Dieser Beifallssturm ist eine Ovation, eine Huldigung. Und der 78- jährige gesetzte Herr, dessen Name soeben genannt worden ist, fasst den Arm seiner Frau, lässt sich aber seine Rührung nicht anmerken. Er weiß, was dieser Moment bedeutet: Die damnatio memoriae, die Verleugnung des Andenkens des Doktor Horst Herold, geht zu Ende.

Das ist jetzt schon mehr als ein gutes Jahr her, aber immer noch bemerkenswert. Denn diese Szene kennzeichnet das Ende einer Zeit, die widersprüchlicher und verkehrter nicht hätte sein können. Horst Herold war immerhin Chef des Bundeskriminalamts, von 1971 bis 1981. Das waren die Jahre, in denen im Kampf gegen die RAF aus einer Kriminalklitsche eine Wunderbehörde wurde. Und das war nur ihm zu verdanken.

Bei den alten Römern war es so, dass die Namen der posthum in Ungnade gefallenen Großen aus den Inschriften herausgeschlagen wurden. Über Herold aber wurde schon zu Lebzeiten eine Art Kontaktsperre verhängt. Er wurde hinter den Mauern einer Kaserne versteckt. Nach seiner Entlassung erhielt er Schreibverbot. Und bei der Amtseinführung seines Nach- Nachfolgers Zachert hatte man ihm nicht einmal mehr einen Platz reserviert, ihn in keiner der Reden auch nur erwähnt. Kurz: Man behandelte ihn wie einen Aussätzigen.

War das seine Schuld? So viel ist klar: Horst Herold war besser als alle vor und nach ihm. Er war wohl der beste Polizist, den Deutschland je hatte. Aber er war der Politik und den Medien suspekt. Den einen deswegen, weil er nicht nur nach Tätern, sondern auch nach den Ursachen suchte. Den anderen wegen seines vermeintlichen Computerwahns. Mit seinen Methoden war aber 1972 die Baader-Meinhof-Gruppe zerschlagen, war die Entführung des Berliner CDU-Politikers Peter Lorenz, war der Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback aufgeklärt worden. Er hatte die Möglichkeiten des Computers schon zu einem Zeitpunkt erkannt und für die Polizei genutzt, als die Jungunternehmer, die später mit der Informatik Millionen verdienten, noch nicht einmal geboren waren. Der Ex-Staatsanwalt und Ex-Polizeipräsident von Nürnberg war ein erfolgreicher Kriminalist, unglaublich erfolgreich - bis zu diesen furchtbaren Wochen vor 25 Jahren: Entführung und Ermordung des Hanns Martin Schleyer.

Mit seiner ausgeklügelten Rasterfahndung und einem klaren Fahndungskonzept war er den Schleyer-Attentätern auf der Spur, er wusste in etwa, wo das Versteck der RAF mit dem entführten Arbeitgeberpräsidenten liegen musste. Er ließ 15Computer mit dem von ihm entwickelten Fahndungssystem PIOS mit 70 000 Hinweisen füttern. Doch das eine, entscheidende Spurenblatt aus Erfstadt-Liblar ging irgendwo verloren auf den bürokratischen Wegen, den Polizeifernschreiben so gehen. Ohne diese Panne hätte es gelingen können, den Entführten zu befreien - und der Chef des Bundeskriminalamts wäre im Triumphzug durch Bonn gefahren worden. Der sozialdemokratische Polizist Herold, der für die Rechten ein Linker und für die Linken die Symbolfigur des staatlichen Schnüffelwahns war, wäre zum Volkshelden aufgestiegen. Seine Methoden des akribischen Sammelns und Analysierens von Daten hätten eine Bewährungschance bekommen. Und was hätte aus diesem Horst Herold dann noch alles werden können... Stattdessen wurde er, wie er es selbst zartbitter formuliert, "der letzte Gefangene der RAF".

Wie es dazu kam - das ist, wie gesagt, ein Stück mit dem Titel: Der Dank des Vaterlands. Dieser Dank sieht zwar nicht ganz so elend aus wie auf einer Zeichnung von George Grosz aus dem Jahr 1919: Da sitzt ein Kriegskrüppel auf der Straße und verkauft Zündhölzer. Und darunter steht der Satz: "Des Volkes Dank ist Euch gewiss". Gut, so kläglich ist es bei Herold nicht, aber besonders schön auch nicht.

Der Dank des Vaterlands an den Chef-Fahnder ist in Oberbayern gelegen, nicht ganz leicht zu finden, hinter den Mauern einer Grenzschutzkaserne. Man passiert erst eine Schranke mit bewaffneten Posten, fährt dann vorbei am ersten gelben Block, betrachtet die saubere Ordnung des Kasernenhofs, wendet sich rechts. Dann steht man vor einem Drahtgittertor - und einer bizarren Idylle: Ein ummauerter Flecken Grün, ein paar Bäume, ein Fertighaus, links vom Eingang ein Rhododendronbusch - das Heim des Horst Herold und seiner Frau seit über zwanzig Jahren. Immerhin: Die Erdwälle, die das Haus früher noch umgaben, sind mittlerweile planiert. Es ist jetzt nicht mehr so finster im Wohnzimmer der Herolds.

Sie wohnen nicht ganz freiwillig dort. Die Kasernen-Ecke hat ihnen der Staat zugewiesen. Nirgendwo anders wollte er seinen Diener schützen. Der Staat hat ihm die "Lehmgrube", wie Herold das Areal nennt, auch nicht geschenkt, wie Caesar seinen Soldaten ein Grundstück geschenkt hat; der Staat hat sich das Stück Kaserne von Herold teuer abkaufen lassen. Man hat den Mann, der unter Einsatz seines Lebens zehn Jahre lang die RAF verfolgt hat, so behandelt wie jeden Bürger, der vom Staat ein Grundstück erwerben will. Eine staatliche Dienstwohnung stellte man dem damals 58-jährigen Pensionär nicht zur Verfügung, weil das, wie die Ministerialbürokratie sagte, "Präzedenzfälle nach sich ziehen könnte". Der Präsident Herold war der Ministerialbürokratie zu mächtig gewesen. Jetzt ließ die Bürokratie den Pensionär Herold ihre Macht spüren.

Aber was blieb dem Mann anderes übrig: Er war die gefährdetste Person der Republik, sein Nachfolger drängte ihn, die Dienstwohnung im Bundeskriminalamt zu verlassen. Herold hatte, so sagt er selber, das "Honecker- Syndrom". Wo sollte er hin? Wo war er einigermaßen sicher? Der Staat erklärte sich außer Stande, Herolds Anwesen im heimatlichen Nürnberg zu schützen. Herold musste es verkaufen, um sich vom Erlös in der Kaserne in aller Eile ein Fertighaus bauen zu lassen. Hier verbunkerte sich der Mann, dessen Fahndung die RAF so gefürchtet hatte, vor deren Anschlägen, hier versteckte er sich vor der Öffentlichkeit. Aus dieser Fertighausfestung heraus verteidigte er sich gegen Angriffe von Politik und Medien. Er sah sich aus dem Amt gejagt wie ein Hund, glaubte, seine Ehre verloren zu haben, und versuchte nun verbissen und akribisch, sie in Prozessen gegen Falschzitierer, Professoren, Publizisten und Politiker zurückzugewinnen.

Und hier, in dieser Fertighausfestung, verbringt er nun seine letzten Lebensjahre, hier hadert er mit sich und dem Schicksal, schiebt er die Erinnerungen weg, die sich aber nicht wegschieben lassen, kämpft er mit ihnen wie Laokoon mit den Schlangen. Hier, in diesem Häuschen, hat er alle Relikte, Requisiten und Archivalien aus der RAF-Zeit aus den Wohnräumen in den Keller verbannt, weil er ohnehin fast alles im Kopf hat, von hier aus wehrt er Interviews und Filmaufnahmen ab. Und hier sitzt ihm in schlaflosen Nächten der tote Hanns Martin Schleyer auf der Brust. Herold hat mit der Bundesrepublik Deutschland Prozesse führen müssen, weil man ihm, während die RAF noch mordete, Bewachungs- und Sicherheitseinrichtungen wegnehmen wollte. Die Gefahrensitua tion hat sich entspannt. Die RAF hat sich im April 1998 für aufgelöst erklärt.

Jetzt könnte der fast Achtzigjährige endlich seine Festung aufgeben. Doch wo sonst sollte Herold denn heute, fast achtzigjährig, noch hin? Herold reist gerne - und kommt dann doch immer wieder hinter die Mauern zurück. Last exit Kaserne.

Gäste hat er dort selten. Wenn er aber welche hat, gibt es kaum einen liebenswürdigeren Gastgeber als ihn. Und wer dann nach den Spuren der Bitterkeit sucht im Gesicht dieses Mannes, der findet sie nicht. Dieses Gesicht, damals mit einer strengen großen Hornbrille, war vor 25 Jahren fast so bekannt wie das des Bundeskanzlers. Doch dieses Gesicht ist in den Jahrzehnten der Kasernierung nicht traurig geworden. Im Gegenteil. Herold sieht aus, als sei es ihm doch noch gelungen, halbwegs Frieden zu schließen mit denen, die seine Gegner waren - mit der RAF einerseits, und mit der Öffentlichkeit von damals andererseits, die ihn zum Gottseibeiuns machte, zum "Big Brother Herold". Hätte eine Verleihagentur für Großväter Horst Herold im Angebot: Dieser alte Mann, der so wunderbar und charmant erzählen kann, wäre dort der Gefragteste von allen.

So viele Geschichten trägt dieser Mann mit sich herum, Geschichten, die Tatort-Kommissare wie Langweiler aussehen lassen. Und nicht nur Geschichten, sondern Geschichte: Die Geschichte davon, wie sich einer die RAF- Bekämpfung "wie eine Rechenaufgabe" vorgenommen hat: "Man musste ihr Weltbild kennen, den marxistischen Ansatzpunkt beachten - und dann die kriminalistischen Grundrechenarten anwenden. Man musste sich gedanklich in den Gegner hineinarbeiten. Wenn man den Katechismus der Gegenseite kannte, wusste man, dass sie so und nicht anders handeln würde. Man musste den dialektischen Materialismus als Analysehilfsmittel benutzen." Nach Herolds Entlassung wurden solche Überlegungen diskreditiert. Herold galt beinahe als Marxist, weil er die marxistischen Methoden kannte und sie für kriminalistische Zwecke genutzt hatte.

Mit Herold hätte man ganze Ringvorlesungen an den Universitäten bestreiten können. Er hätte den Juristen erklärt, wie im Kampf gegen die Terroristen zum erstenmal in der Kriminalgeschichte Täter überführt wurden, ohne dass der Zeugenbeweis eine Rolle spielte - weil das BKA den Beweis aufgrund von Spuren gerichtsfest perfektionierte. Er hätte zusammen mit den Politikwissenschaftlern über die exzessive Repression nachgedacht, mit welcher der Staat in den frühen Siebzigerjahren auf die keimende Gewalt reagiert hat. Was wäre gewesen, wenn der Staat frühzeitig die Weichen anders gestellt hätte? Wenn er De-Eskalation nicht erst qualvoll hätte lernen müssen? Vielleicht hätte es dann eine RAF gar nicht gegeben, vielleicht wäre eine Ulrike Meinhof heute sogar Familienministerin. Derlei Gedanken trägt Herold mit sich herum. Er ist ein Kriminalphilosoph geworden, ein freundlich grübelnder Weltverbesserer.

Herold ist süchtig. Herold säuft Informationen wie ein Alkoholiker seinen Fusel. Das war die Krankheit, die man vor 25 Jahren bei ihm diagnostizierte und wegen der man ihn letztendlich für dienstunfähig erklärte. Es war eine furchtbare Fehldiagnose. Herold war nicht süchtig, er war auch nicht berauscht, er war ein Visionär - aber wohl zu oft zu euphorisch, der Zeit zu weit voraus. Mit seinen Vorstellungen von rechnergestützter Spracherkennung oder rechnergestützter Auswertung von Handschriften erntete er damals Kopfschütteln. Heute arbeiten selbst FBI und Secret Service mit den Systemen aus Wiesbaden. Und bei der Rasterfahndung knüpft man heute in Deutschland wieder da an, wo Herold einst aufgehört hat: Weil man jetzt allmählich zu kapieren beginnt, dass Rasterfahndung, richtig angewandt, Persönlichkeitsrechte nicht verletzt, sondern schont.

Herold grämt sich über die Bücher, die entlassene Ex-Terroristen schreiben, weil so "die Interpretationshoheit den Tätern überlassen bleibt". Er selber aber will nicht mehr schreiben, kann nicht mehr, will Ruhe haben und will sie doch nicht. Es ist nicht nur die Angst vor quälender Erinnerung, die ihn jetzt am Schreiben seines großen Werks über den Terrorismus hindert. Es ist auch die Perfektionssucht und das Gefühl, dass er seinen Ansprüchen als alter Mann vielleicht nicht mehr genügt. Und so liest sich der grandiose Aufsatz "Die Lehren des Terrors", den er im Mai 2000 zum 25. Jahrestag des Beginns des Stammheim-Prozesses in der Süddeutschen Zeitung schrieb, wie das Exposé zu einem Werk, das nie mehr erscheinen wird.

Viermal im Jahr sitzen, heftig diskutierend, zwei alte Herren in einer Nische im Münchner Spatenhaus und essen gefüllte Kalbsbrust: Der eine ist Manfred Schreiber, der Ex-Polizeipräsident von München. Der andere ist Horst Herold. Schreiber hat seinem Freund seinerzeit zur Verabschiedung, als kaum noch einer ein gutes Wort für ihn hatte, eine leidenschaftliche Rede gehalten und ihm den schäbigen Abschied zu versüßen versucht. Er hat ihn damals beschrieben wie einen Prometheus der Polizei. Der antike Held brachte bekanntlich den Menschen das Feuer - und wurde zur Strafe von Zeus an den Felsen geschmiedet. Horst Herold wurde nicht gefesselt, sondern auf eigene Kosten eingemauert. Das war der Dank des Vaterlands.

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