Holocaust-Forscher Hilberg ist tot:"Töten ist nicht mehr so schwer wie früher"

Raul Hilberg gilt als Vater der Holocaust-Forschung. Seine Methode, sich dem Holocaust von der Täterseite zu nähern, wurde ihm häufig zum Vorwurf gemacht. Erst spät kam er gerade mit seiner präzisen, nüchternen Analyse zu Ehren.

Gustav Seibt

Die Geschichte der Geschichtswissenschaft kennt immer wieder Beispiele dafür, dass erst ein Einzelner ein Gebiet entdecken und beschreiben muss, auf dem dann in den folgenden Generationen Tausende arbeiten. Burckhardts Renaissance-Buch begründete ein bis heute florierendes Forschungsgebiet, das es so vorher nicht gab.

Raul Hilberg, der am Samstag im Alter von 81 Jahren verstorben ist, war ein solcher wissenschaftlicher Gründer. Er ist der Vater der Holocaustforschung geworden, an der sich heute ungezählte Wissenschaftler auf der ganzen Welt beteiligen. Nur dass Hilberg den aus der antiken religiösen Sprache entnommenen Begriff "Holocaust" ebenso wenig schätzte wie den hebräischen Ausdruck "Shoah". Er sprach, so einfach wie nüchtern, von der "Vernichtung der europäischen Juden".

Damit ist ein ungeheuerlicher Vorgang bezeichnet, der es überraschend erscheinen lässt, dass man ihn wissenschaftlich erst entdecken musste. Hätte nicht gleich bei der Öffnung der Lager 1945 die Frage auftauchen müssen, wie es, ganz materiell, dazu kam und wer mit welchen Mitteln die industrielle Tötung von mehr als fünf Millionen Menschen organisiert hatte? Wie konnten die Opfer identifiziert, zusammengetrieben, transportiert und dann ermordet werden? Doch diese Fragen blieben jahrelang unbeantwortet.

Erst Raul Hilberg, der Nachkomme von 1939 aus Wien nach Amerika ausgewanderten Juden, stellte und beantwortete sie auch - zunächst im Alleingang. 1945 kam Hilberg als knapp zwanzigjähriger Besatzungssoldat nach Deutschland, wo er Gelegenheit hatte, die hinterlassenen Papiere Adolf Hitlers zu sichten. In den fünfziger Jahren machte ihn sein akademischer Lehrer Hans Rosenberg, ein emigrierter deutscher Jude, am Brooklyn College mit der Geschichte des preußischen Berufsbeamtentums bekannt, dieser historisch einzigartig hochgezüchteten Gestalt einer ethisch neutralisierten Zweckrationalität.

Ein Trieb und seine Maschinen

Hilberg begriff, dass die Ermordung einer über einen ganzen Kontinent verstreuten Bevölkerungsgruppe von mehreren Millionen Menschen zunächst nicht dämonische Sadisten erfordert, sondern Heerscharen von Bürokraten in den Stäben der Verwaltungen, Standesbeamte für die Identifizierung, Polizei für die Absonderung, Bahnbeamte für den Transport und dann paramilitärische Verbände fürs eigentliche Vernichtungsgeschäft, mit dem aber bald auch Gruppen der Opfer betraut wurden.

Also studierte Hilberg zunächst nicht die Erinnerungen der wenigen Überlebenden, sondern das reichhaltige Material der Täter. Berühmt ist Hilbergs Auslegung einer jedem Menschen vertrauten Textsorte: der Bahnfahrpläne. Hier taucht das Wort "Jude" gar nicht auf, sondern nur ein ominöses "L", das signalisiert, dass die auf der Hinfahrt vollgestopften Transportzüge auf dem Rückweg leer waren. In dem "L" steckt jenes Maß an Deutlichkeit, das die Äußerungsform der Bürokratie erlaubt, aber auch gewährleistet.

Hilberg blieb dabei immer konkret, detailversessen und unerbittlich präzise. Allgemeine Epochendiagnosen wie die von der "verwalteten Welt" versagte er sich, stattdessen beschrieb er Stufen der Ausgrenzung im Verwaltungshandeln, von Entlassungen, über Arisierungen zu Vermögenssteuern, bis zu Vertreibungen und Ghettoisierung, der Vorstufe der Vernichtung - alles kleinteilige, aber insgesamt gewaltige Handlungssummen, wie sie in der modernen Welt, beispielsweise beim Betrieb von Großstädten, Tag für Tag erbracht werden müssen.

Als Hilbergs Haupt- und Lebenswerk "The Destruction of the European Jews" 1961 erstmals erschien, erkannte so gut wie niemand seinen wissenschaftlichen Rang. Es schien eine Geschichte zu sein, in der die Opfer kein Gesicht hatten und die Täter keine Physiognomie. Dass genau in diesen beiden Charakteristika - der Ferne der Opfer und der Ungreifbarkeit der Täter - wesentliche Bedingungen des historischen Vorgangs Judenvernichtung bestanden, wurde verkannt, selbst von scharfsinnigen Zeitgenossen wie Hannah Arendt.

Auch in Deutschland stieß Hilbergs Forschungsleistung zunächst auf wenig Resonanz. Die deutsche Historiographie konzentrierte sich auf das gespenstische Führungspersonal des Dritten Reichs, dem es übermenschliche Kräfte bei der Durchsetzung seiner finsteren, bald auch ideologiegeschichtlich präzise eingeordneten Ziele zutraute.

Die netzwerkartige, multipolare Struktur modernen Verwaltungshandelns interessierte in diesem Zusammenhang nicht. Und auf Seiten der Opfer stieß die nur beiläufige Behandlung von deren Widerstand auf erbitterte Kritik - in Israel konnte "Die Vernichtung der europäischen Juden" bis heute nicht erscheinen.

Töten ist nicht mehr so schwer wie früher

So dauerte es unglaubliche zwanzig Jahre, bevor Hilbergs immer wieder ergänztes und auf den neuesten Stand gebrachtes Werk von einem Kleinverlag, der sich damit prompt wirtschaftlich ruinierte, ins Deutsche übersetzt wurde, in jene Sprache, in der die weitaus meisten seiner Quellen geschrieben worden waren. Und weitere zwanzig Jahre mussten vergehen, bevor sein Verfasser in Deutschland mit zwei Preisen und einem Verdienstorden geehrt wurde.

Im Rückblick wird man es einmal als enormen Glücksfall der Historiographiegeschichte erkennen, dass die wissenschaftliche Erschließung der Judenvernichtung auf so redliche, nüchterne und unwiderlegliche Weise begann. Denn Hilberg blieb jede düster dräuende, selbstgerecht moralisierende und politisch instrumentelle Behandlung des Holocausts völlig fremd, also jene inzwischen allgegenwärtigen Verhaltensweisen, die der Erinnerung auf Dauer ihr Gewicht nehmen werden, weil die Motive der Nachgeborenen eine so große Rolle dabei spielen.

Dabei hat Hilberg an der menschheitsgeschichtlichen Bedeutung seines Themas keinen Zweifel gelassen. "Ein Urtrieb war unter den westlichen Nationen aufgetaucht; er war durch ihre Maschinen freigesetzt worden. Von diesem Augenblick an stehen die grundlegenden Voraussetzungen unserer Zivilisation und Kultur nicht länger unangefochten da, denn obwohl das Ereignis vergangen ist, bleibt das Phänomen als solches bestehen."

Ein Trieb, aber vor allem Maschinen - darauf lag Hilbergs Akzent: "Vor dem Anbruch des 20. Jahrhunderts und seiner Technik konnte ein auf Zerstörung versessener Geist nicht einmal in der Phantasie mit den Gedanken spielen, die die Nazis in die Tat umsetzen sollten.

Der Verwaltungsbeamte früherer Jahrhunderte hatte nicht die Werkzeuge. Er besaß nicht das heutige Fernmeldenetz; er verfügte nicht über moderne Schnellfeuerwaffen und rasch wirkende Giftgase. Der Bürokrat von morgen würde diese Probleme nicht haben; er ist bereits besser ausgerüstet als die deutschen Nazis es waren. Töten ist nicht mehr so schwer wie in früheren Zeiten."

Das ist in seiner schrecklichen Nüchternheit Hilbergs Lehre für die Zukunft. Sie ist schwer erträglich, und wenn man nach Gründen für die Mühsal und den erst späten Erfolg in der Laufbahn dieses großen Wissenschaftlers sucht, muss man die Antwort wohl in dieser Wahrheit finden: Töten ist nicht mehr so schwer wie in früheren Zeiten.

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