Hörenswert:Die Leiden Christi

Ein Live-Mitschnitt der Johannes-Passion

Von Dirk Wagner

Von den fünf Passionen, die Johann Sebastian Bach vermutlich komponiert hat, sind nur zwei überliefert. Eine der beiden, nämlich die Johannes-Passion, liegt nicht einmal in einer vom Komponisten autorisierten Endfassung vor. Stattdessen bleibt es der Fachwelt überlassen, ein aufführungs-taugliches Ganzes aus einem um die 520 Seiten starken Papierbündel zu erstellen, das verschiedene Fassungen enthält. Diese sind zum Teil nur in unvollständigen, von rund zwanzig verschiedenen Schreibern erstellten Stimmsätzen überliefert.

Es mag einige darum auch enttäuschen, wenn die nun auf CD erschienene, vom Bayerischen Rundfunk produzierte Aufnahme der Johannes-Passion unter dem Dirigat von Peter Dijkstra einmal mehr nur der Standardversion der Neuen Bach-Ausgabe folgt, statt sich auch in den ihr anhängenden Alternativ-Arien zu bedienen. Doch welch opulenter Wohlklang drängt dieses Bedauern sogleich in den Hintergrund.

Der Sound ist vor allem dem Concerto Köln zu verdanken, das auf nachgebauten Originalinstrumenten einen Klang aufspürt, wie er schon zu Lebzeiten des Thomaskantors die Kirchgänger in Leipzig berührt haben mag. So ergänzt zum Beispiel recht belebend eine Viola da Gamba - eine im Barock übliche Kniegeige also, die mit der Erfindung des Cellos allerdings allmählich außer Mode geriet - die vom Cembalo begleiteten Rezitative. Wie hingebungsvoll der Tenor Julian Prégardien den von ihm gesungenen Evangelisten die Leiden Christi geradezu mitleiden lässt, ist wohl auch dem dramatischen Erzählstil von Dijkstra geschuldet, der den Chor des Bayerischen Rundfunks erschreckend hasserfüllt fordern lässt: "Er ist des Todes schuldig". Augenblicklich spürt der Hörer: Solch blinder Hass ist kein historischer, sondern immer noch aktuell. Der Nährwert einer so inszenierten Passion wäre dann allerdings nicht nur die persönliche Aneignung der biblischen Verkündigung, wie sie Martin Luther im Sinn hatte, als er empfahl: "Lerne Christus, den Gekreuzigten, singen."

Der eigentliche Zugewinn des vorliegenden Live-Mitschnitts aus dem Münchner Herkulessaal, in welchem übrigens auch Tareq Nazmi einen überzeugend standhaften Christus gibt, dürfte indes die dritte CD sein, auf der Christian Baumann, Gert Heidenreich und Jürgen Stockerl als Sprecher eine Werkeinführung von Markus Vonhoefer so spannend aufbereiten, dass man Vonhoefers klugen Gedanken auch gerne mehrmals hintereinander lauscht.

Sorgfältig vorbereitete Klangbeispiele verdeutlichen zudem die Analyse, die den musikalischen Aufbau der Passion ebenso detailliert erläutert, wie sie etwa den Wandel eines Taubenflügels aus Barthold Heinrich Brockes Passions-Dichtung in einen Glaubensflügel bei Bachs Vertonung derselben verrät. "Wer singt, betet doppelt", hatte Luther mal gesagt. Wer dieses hört, wohl auch.

Johannes-Passion, Chor des Bayerischen Rundfunks, Concerto Köln, Leitung Peter Dijkstra

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