Hörbuch-Tips:Jüngst im Traume

Naturbeschwörung und Melancholie ... Conrad Ferdiand Meyers Lyrik ist zu entdecken. Und: Monika Maron als Vorleserin ihres Romans 'Munin'.

Von Jens Bisky

die gedichte

Conrad Ferdinand Meyer: Die Gedichte. Gelesen von Frank Arnold, Christian Brückner, Martina Gedeck u.a. Sinus Verlag, Kilchberg 2018. 6 CDs mit zwei Booklets, 52,80 Euro.

Jüngst im Traume, auf den Fluten

Seit Jahren veröffentlicht der Sinus-Verlag die Werke Conrad Ferdinand Meyers, die berühmten - wie "Jürg Jenatsch" oder "Die Richterin" - und die weniger bekannten. Sie liegen alle gelesen, gedruckt und kommentiert vor, das heißt zu den CDs, auf denen beste Sprecher zu hören sind, kommen Booklets mit dem vollständigen Text, mit Essay und Erläuterungen. Kein anderer Hörbuchverlag treibt so viel beglückenden Aufwand. Mit den Gedichten ist die Ausgabe nun vollendet, liegt das Gesamtwerk auf 46 CDs und gut 3000 Seiten Text vor.

Die erste Strophe von "Lethe", das Gottfried Benn besonders schätzte, klingt so: "Jüngst im Traume sah ich auf den Fluten / Einen Nachen ohne Ruder ziehn, /Strom und Himmel stand in matten Gluten / Wie bei Tages Nahen oder Fliehn". Die 1874 erstmals veröffentlichen Verse sind eine Art Gemäldevergegenwärtigung, angeregt von Charles Gleyres "Le Soir". "Der Abend" ist im Kommentarheft abgebildet und mag auf den ersten Blick so fremd, so fern gerückt wirken wie viele der Gedichte Meyers, die Balladen, die Naturbeschwörungen, die Werke der Trauer, der Melancholie. Wer sich von seinen Vorurteilen losreißen kann, sich von verbrauchten Reimen wie "Hosen - Matrosen", "zirpt - stirbt" nicht abschrecken lässt, kann große Kunstfertigkeit entdecken und erleben, wie Historismus in Symbolismus umschlägt. Es geht um Liebe, Reise, Männer, Genies, Götter und eben "Lethe": "In die Welle taucht' ich. Bis zum Marke / Schaudert' ich, wie seltsam kühl sie war. / Ich erreicht' die leise ziehnde Barke, / Drängte mich in die geweihte Schar".

Die Menschen werden gereizter

"Die Menschen waren gereizter und je nach Naturell fatalistisch oder aggressiv geworden, was nicht nur die Bewohner unserer Straße betraf, sondern auch alle anderen, und das nicht, weil die Welt sich in den letzten zwölf Monaten so verändert hätte, sondern gerade weil sie sich nicht verändert hatte, weil das, was schon vor Jahren begonnen und sich im vergangenen Jahr in Krieg, Krisen und weltweitem Terror entladen hatte, alltäglich geworden war." - So klingt ein Angebot zur Krisendiagnostik, verfasst von Mina Wolf, die in einer kleinen Straße in Berlin-Schöneberg wohnt, des Honorars wegen einen Aufsatz über den Dreißigjährigen Krieg schreiben will, Besuch von einer Krähe bekommt. Der explosiven Stimmung spürt Monika Maron in ihrem neuen Roman nach, der im besten Sinne ein Zeitroman ist, weil er die gegenwärtigen Stimmungen und das Durcheinander der Stimmen erfasst.

Hörbuch-Tips: Monika Maron: Munin oder Chos im Kopf. Autorinnenlesung. Argon Verlag, Berlin 2013. 4 CDs, 264 Minuten, 19,95 Euro.

Monika Maron: Munin oder Chos im Kopf. Autorinnenlesung. Argon Verlag, Berlin 2013. 4 CDs, 264 Minuten, 19,95 Euro.

Monika Maron ist eine erfahrene Leserin, ruhig, konzentriert, mit angenehmer Stimme, an deren Bildung viele Zigaretten mitgewirkt haben. Sie zieht den Hörer von Anfang an in den Mikrokosmos der kleinen Straße, wo eine Irre auf dem Balkon unentwegt singt und kein Weg in Aussicht ist, ihr Einhalt zu gebieten, wo die Nachrichten des neuesten Irrsinns eintreffen. Kann man die Nervosität und Gereiztheit registrieren, ohne sie zu befeuern? Wie das Chaos ordnen? Vielleicht, indem man sich dem "anonymen Rauschen der Stadt" hingibt, das Monika Maron eingangs beschwört, als Zeichen schöner Nähe in stiller Nacht.

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