Historisches Quartett:Alles Idioten...

...außer Harald Welzer. Der hat ein "unfassbar lausiges Buch" geschrieben und ist "der James Last der Kritischen Theorie". So herzhaft ging's zur Sache beim Auftakt-Treffen des Historischen Quartetts in München.

Von Michael Stallknecht

Exakt 2650 Seiten: Soviel muss bewältigen, wer allein aus dem letzten halben Jahr auch nur, sagen wir, David Nirenbergs "Anti-Judaismus: Eine andere Geschichte des westlichen Denkens", "Das visuelle Zeitalter: Punkt und Pixel" von Gerhard Paul, Wolfram Siemanns Biografie über Clemens Fürst von Metternich und Harald Welzers Neuerscheinung "Die smarte Diktatur: Der Angriff auf unsere Freiheit" lesen möchte - wichtige Bücher, die historische Weichenstellungen aufzeigen oder neu bewerten. Dass auch in den kulturinteressierten Schichten kaum einer mehr den Überblick über die Menge der Neuerscheinungen zu bewahren vermag, beflügelt den Erfolg der literarischen, philosophischen und historischen Quartette, die seit Jahren überall aus dem Boden schießen. Ganz zu schweigen von Großveranstaltungen wie der dieser Tage in Köln laufenden phil.Cologne, die ebenfalls die Trends des Buchmarkts zu bündeln versuchen.

Seit dieser Woche hat nun auch München sein "Historisches Quartett", das sich bei der Premiere im Literaturhaus der eingangs erwähnten Neuerscheinungen annahm. Halbjährlich wollen sich in Zukunft Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte, die Kulturhistorikerin Ute Daniel und der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel treffen, um gemeinsam mit einem Gast ihre Buchauswahl aus dem vergangenen halben Jahr zu präsentieren. Der Gast soll dabei möglichst ein Nichthistoriker sein, um, wie Andreas Wirsching im Gespräch sagt, die Veranstaltung "rhetorisch aufzumischen". Jürgen Kaube, Herausgeber der FAZ, ließ sich das nicht zweimal sagen und stieg mit Fleiß in die Fußstapfen Marcel Reich-Ranickis, als es um Harald Welzers neues Buch ging. Ein "unfassbar lausiges Buch" sei dessen neueste Publikation, schimpfte Kaube, und der Autor "der James Last der Kritischen Theorie".

Dass man sich nicht einig sein muss, das macht den Erfolg dieses Formats aus

Harald Welzer beschreibt das zunehmende Sammeln von Daten in den Speichern von Staaten und Großkonzernen als Gefahr eines neuen Totalitarismus. Doch Kaube ist die These zu simpel, dass die Vielen sich durch die Wenigen manipulieren lassen. "Alles Idioten außer Harald Welzer", laute das Fazit des Buches.

Dass der einzige Verriss des Abends ausgerechnet das Buch mit dem direktesten Gegenwartsbezug traf, ist wohl kein Zufall.

Man wolle sich durchaus nicht auf die Zeitgeschichte konzentrieren, sagt Andreas Wirsching im Gespräch, sondern "eine Ausgewogenheit der Epochen und Gegenstände" erreichen. Wie weit sich aus der Geschichte Konkretes für die Gegenwart lernen lässt, bleibt sowieso eine der umstrittensten Fragen unter Historikern. Das ist auch an diesem Abend nicht anders. Während Ute Daniel immer wieder direkte Parallelen zu Entwicklungen der Gegenwart zieht, bleibt der Rest der Runde vorsichtiger. Dass keine Einigkeit herrschen muss, erscheint auch in München erneut als Erfolgsrezept. Denn genau damit wird die übliche Frontalsituation aufgebrochen, die bei den herkömmlichen Autorenlesungen in den Literaturhäusern herrscht. Tritt hier der Autor dem Publikum letztlich als Autorität frontal gegenüber, kann sich im offenen Diskurs der Viererrunde auch der Zuschauer auf die eine oder eben die andere Seite schlagen. Ob Jürgen Kaube also Recht hat mit seiner Kritik an Harald Welzer? Da hilft nur eins: Selber lesen!

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