Historikerin:Zwischen Hoffnung und Hölle

In München überlebten maximal 120 Juden das NS-Regime als sogenannte U-Boote. Ein Gespräch mit Susanna Schrafstetter über ihr Buch "Flucht und Versteck"

Interview von Hannah Vogel

Schätzungsweise 110 bis 120 Münchner Juden lebten zur Zeit des NS-Regimes im Untergrund. In ihrem Buch "Flucht und Versteck. Untergetauchte Juden in München - Verfolgungserfahrungen und Nachkriegsalltag" (Wallstein) berichtet Susanna Schrafstetter erstmals über deren Schicksal. Studiert hat die Historikerin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seit 1998 lehrt sie allerdings im Ausland, derzeit an der University of Vermont in den USA.

SZ: Angenommen, Sie hätten zur Zeit des NS-Regimes gelebt: Hätten Sie den Mut besessen, einen Juden zu verstecken?

Susanna Schrafstetter: Das ist die erste Frage, die man sich selbst stellt. Für sich selbst kann man das wahrscheinlich gar nicht beantworten. Natürlich hofft man, dass man das Richtige getan hätte, aber sicher kann man sich keineswegs sein.

Was hatten die Helfer zu befürchten?

Die Annahme unter der Bevölkerung war, dass das weitreichende Konsequenzen haben würde. Tatsächlich war es ganz unterschiedlich. Es gibt Fälle, da ist nichts passiert, oder die Leute sind mit einer Verwarnung davon gekommen. Andere wurden in Konzentrationslager gebracht und sind an den Folgen der Lagerhaft gestorben.

Welches Schicksal hat Sie am meisten bewegt?

In einem Fall tritt ein Kind getrennt von der Mutter eine Odyssee an, kommt zu verschiedenen Pflegeeltern und Waisenhäusern. Jahrelang hat es die Mutter nicht gesehen. Und 1945 hat diese erst mal Schwierigkeiten, es wieder zu finden. Solche Einzelschicksale nehmen einen auch persönlich mit. Man denkt viel darüber nach und träumt sogar davon, dass man sich in einer ähnlichen Situation befindet, obwohl man das natürlich nicht nachvollziehen kann.

Zwischenstadtion Judensiedlung, Deportation, Lager Milbertshofen

Zwischenstation Milbertshofen: Bevor die Münchner Juden in die Todeslager im Osten deportiert wurden, brachte man sie in sogenannte Judensiedlungen.

(Foto: privat)

In Berlin versteckten sich Tausende Juden. Wieso waren es in München nur 110 bis 120?

In Berlin haben 1500 bis 2000 überlebt, untergetaucht sind noch sehr viel mehr. In München war es eine relativ geringe Zahl. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die jüdische Gemeinde in Berlin sehr viel größer war. Am Vorabend der Deportationen lebten fast 40 Prozent der noch in Deutschland verbliebenen Juden in Berlin, das waren etwa 73 000 Menschen. In München waren es im Herbst 1941 noch knapp über 3000 Personen.

Wie unterschieden sich die Voraussetzungen für ein Leben im Untergrund?

In Berlin ist eine relativ große Zahl von Menschen erst relativ spät deportiert worden, im Frühjahr 1943. Zu dieser Zeit wussten schon viele, was ihnen bevorstehen würde. Daher gab es eine sehr große Fluchtwelle. Die jüdische Bevölkerung in Berlin war sehr viel weniger gettoisiert als in München. Gleichzeitig hatten sich in Berlin Helfernetzwerke und ein Schwarzmarkt für die Untergetauchten etabliert. Das gab es in München alles nicht: Die Deportationen wurden vergleichsweise früh abgeschlossen. Im März 1943 gab es in München nur noch weniger als 1000 jüdische Personen. Viele von ihnen waren sehr stark von der nichtjüdischen Bevölkerung abgeschottet, mussten in sogenannten Judenlagern leben. Es war viel schwieriger, den Kontakt zu nichtjüdischen Bekannten oder Freunden zu halten.

Wie war das Leben im Untergrund?

Das klassische Beispiel ist Anne Frank. Sie hat jahrelang im selben Versteck ausgeharrt, umsorgt von wenigen Helfern. Doch das war eher der Ausnahmefall. Verstecke wurden gewechselt, weil es zu gefährlich war, an einem Ort zu bleiben. Es gibt Fälle, da wechselten die Untergetauchten 60 bis 70Mal ihr Versteck, und es waren bis zu 100 Personen an der Rettung beteiligt. Viele Menschen haben Hunderte Kilometer zurückgelegt, sind beispielsweise von München nach Berlin geflohen. Es gab aber auch Fluchtbewegungen von Norddeutschland in abgelegene Regionen in Oberbayern. Viele ausgebombte nichtjüdische Deutsche zogen aufs Land, und man hat versucht, sich als solche auszugeben.

schrafstetter

Susanna Schrafstetter, geboren 1969, ist Associate Professor of History an der Universität von Vermont, USA.

(Foto: James Le Sueur/oh)

Wie erging es den jüdischen Verfolgten nach 1945?

Für viele war es ein relativ wichtiger Schritt, wieder aus dem Untergrund aufzutauchen und ins Leben zurückzufinden. Das war aber nicht einfach, weil die körperlichen und psychischen Strapazen so schwerwiegend waren. Das waren Belastungen, die haben viele dieser Menschen bis zu ihrem Tod nicht losgelassen - speziell die Konfrontation mit der Tatsache ermordeter Verwandter und in der Folge einer zerstörten Familie. Erschwerend war oft das Alter und der Kampf um die sogenannte Wiedergutmachung, der sich als äußerst frustrierend und wiederum psychisch belastend erwies.

Und ihren Helfern?

Die Helfer waren in der Nachkriegsgesellschaft nicht grade beliebt. Sie haben anderen Menschen den Spiegel vorgehalten, was man hätte machen können. Deshalb haben sie es weitgehend vermieden, darüber zu sprechen, und sind daher auch erst in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit wahrgenommen worden.

Sind Sie bei Ihren Recherchen an Grenzen gestoßen?

Ich mache mir keine Illusionen, dass ich alle Fälle gefunden hätte. Es gibt es mit Sicherheit eine Dunkelziffer an Personen, deren Schicksal sich nicht klären lässt.

Wird es in Zukunft schwieriger, neue Erkenntnisse zu gewinnen?

Die Zeitzeugen werden immer weniger. Die Quellenlage hat sich eher verbessert, weil weitere Aktenbestände zugänglich gemacht wurden. Es gilt durchaus, noch sehr viel neues Material auszuwerten.

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