"Heli" im Kino:Von der Wirklichkeit überrollt

Heli Kino

Mitgefangen: Der Fabrikarbeiter Heli (Armando Espitia) gerät in einen Drogenkonflikt, mit dem er gar nichts zu tun hat.

(Foto: Temperclay Film)

Autorenfilmer wie Amat Escalante sind Traumaforscher. In "Heli" wirft der mexikanische Regisseur einen schwer erträglichen Blick auf die Gewalt in seiner Heimat. Es ist ein brutaler Film - aber nichts gegen das, was in Mexiko wirklich geschieht.

Von Tobias Kniebe

Wenn ein wirklich interessanter Film beginnt, zeigt die erste Einstellung meist schon den ganzen Filmemacher, der da am Werk ist. Hier sieht man eine Art Stillleben auf der Ladefläche eines Pick-up-Trucks. Zwei Füße, nur einer davon mit einem Strumpf bekleidet. Daneben ein Kopf mit dicken schwarzen Haaren, getrocknetes Blut im Ohr, silbernes Klebeband über dem Mund, der Rest des Gesicht verborgen unter einem schwarzen Soldatenstiefel. Nur das Auge kann man erkennen. Es blinzelt gelegentlich, das einzige Zeichen des Lebens.

Sonst bewegt sich nichts in diesem Bild, viele Sekunden lang , nur die Tonspur lässt erkennen, dass der Pick-up-Truck fährt. Schließlich aber richtet sich die Kamera auf und nimmt auch die Fahrerkabine und die Landschaft in den Blick. Es muss sehr früh am Morgen sein, das Licht ist weich, dürre Hügel gleiten vorbei, wohl in der Sierra Madre del Sur in Zentralmexiko, wie die Schilder vermuten lassen. Schließlich ein Städtchen, noch menschenleer in der Früh, und eine Brücke. Der Truck verlangsamt sich. Irgendein Drogenlord und Kartellboss will wieder Leichen baumeln sehen. Über dem Highway. Zur Abschreckung.

"Heli" ist ein bemerkenswerter Film aus Mexiko, der letztes Jahr in Cannes den Regiepreis gewonnen hat - und schon nach den ersten Bildern kann man erkennen, wofür. Es geht um einen vollkommen klaren, ungeschützten, nur schwer erträglichen Blick auf die Drogen-, Polizei- und KartellGewalt, die Mexiko seit Jahren zerfrisst. Aber Amat Escalante, der 35-jährige Regisseur, verweigert sich zugleich jener treibenden, hysterischen Erzählweise, die eine solche Zivilisationskatastrophe auch dramaturgisch noch ausbeuten würde - wie das üblicherweise geschieht.

Escalante scheut nicht leere und tote Momente

Sein Blick erinnert an das Kino seines Landsmanns und Lehrmeisters Carlos Reygadas ("Batalla en el cielo") dessen Assistent er lange war. In seinen Bildern ist eine Ruhe, die vorgefundene Szenerien wirken lässt, leere und tote Momente nicht scheut - und doch auch die Schönheit des Morgenlichts einfach hinnimmt, wenn es den Weg in den Tod begleitet. Diese Ruhe signalisiert auch seine Zugehörigkeit zum inneren Kreis des globalisierten Autorenfilms, der sich vor allem in Cannes jedes Jahr neu konstituiert.

Die deutschen Mitglieder dieses Kreises werden gern Berliner Schule genannt, dieser Vergleich funktioniert aber hier nur bedingt. In der Berliner Schule wird nicht einfach mitten im Film die Scham eines nackten, gefesselten Manns mit Grillanzünder angesprüht und dann brennen gelassen, während er sich verzweifelt windet - obwohl es Grillanzünder auch in Deutschland gibt. Hierzulande würde das aber willkürlich wirken, wie ein Missbrauch erzählerischer Macht. In Mexiko dagegen stehen die Filmemacher ernsthaft vor der Frage, wie sie all die Leichen am Straßenrand und all die enthaupteten Köpfe in den Abendnachrichten überhaupt noch in das Bild integrieren können, das ein Kinoerzähler von seinem Land entwerfen muss.

Amat Escalante tut das, indem er zunächst Normalität zeigt. Heli (Armando Espitia) ist ein sehr junger Arbeiter an den modernen Robotern des Autozulieferers Hirotec, wo die Mitarbeiter sich mit komischer Morgengymnastik für den globalen Wettbewerb fit machen. Er lebt mit Vater, Schwester, Ehefrau und Baby recht beengt, in einem grauen Betonkasten in karstiger Landschaft. Ein altes Auto steht ohne Reifen vor der Tür, aber immerhin hat seine Frau eine gute Ärztin, und die Schwester scheint gut in der Schule zu sein.

Eine Art Zombie, der zu viel gesehen hat

Der Freund der Schwester ist Rekrut bei der Spezialpolizei und wird von einem amerikanischen Ausbilder gequält - und alle Normalität zerbricht, als er seinem korrupten Vorgesetzten zwei Päckchen Kokain stiehlt. Die Familie wird in diesen Diebstahl verwickelt, und Helis nächtliche Vernichtung der Drogen macht alles nur noch schlimmer. Irgendein Boss ist jetzt richtig sauer.

Es folgt die schon erwähnte Folternacht, die einem den Magen umdrehen kann, bei der aber selbst Kinder zuschauen. Escalante lässt dieses Grauen in direkte Konkurrenz zu einem Playstation-Bildschirm treten, auf dem gerade noch virtuell gekämpft wurde - und der Blick der Zuschauer im Raum verändert sich kaum. Er stellt die beinahe schon überdeutliche Frage nach der Geschwindigkeit, mit der eine Gesellschaft abstumpfen kann, wenn in ihrer Mitte die Barbarei ausbricht.

Auch bei der Fahrt zur Autobahnbrücke ist Heli dabei, aber er wird überleben - als eine Art Zombie, der zu viel gesehen hat. War es von Anfang an ein Zombieblick, der hier auf Mexiko geworfen wird - längst zu stumpf für Mitleid und Angst? In diesem posttraumatischen Nebel jedenfalls fragt man sich plötzlich, ob der Autorenfilm der Gegenwart - zum Beispiel auch bei Christian Petzold und der Berliner Schule - nicht generell einen posttraumatischen Blick hat. Nur: in der Folge welchen Traumas? Das fragen in Deutschland immer die Gegner dieser Ästhetik - und verweisen auf Wohlstand, Sicherheit, Ereignislosigkeit und den Amüsierwillen ihrer Lebenswelt.

Nimmt man aber Amat Escalante, seinen Lehrmeister Carlos Reygadas und den Fall Mexiko, dann stellt sich diese Frage anders. Wo ihre Kamera ungläubig ins Leere starrte und ihre Figuren wie benommen durch die Welt zogen, haben sie in Wahrheit nicht in die Vergangenheit geblickt, sondern bereits in die Zukunft. Hinein in eine Welt, die der Rest der Menschheit noch nicht sehen konnte, unvorstellbar in ihrem Blutrausch und ihrer Gefühllosigkeit - so unvorstellbar, wie vor wenigen Jahren noch die mexikanischen Abendnachrichten waren oder die säbelschwingenden Horden des Islamischen Staats.

Schon ein paar Jahre bevor Griechenland seine Kreditwürdigkeit und sein komplettes Selbstverständnis verlor, zeigte sich das griechische Kino plötzlich wie traumatisiert, verwegen, sperrig und wieder hochinteressant. Vielleicht muss man den globalisierten Autorenfilm also noch einmal anders verstehen - als einen prä-traumatischen Film. Er spürt die Erschütterungen heranrollen und streift schon mal durch die Trümmerlandschaften der Seele, die sich bald vor uns auftun werden. Ein Film wie "Heli" aber markiert den Moment, wenn die Wirklichkeit das Kino nicht nur einholt, sondern überrollt.

Heli, MX/D/NL/F 2013 - Regie: Amat Escalante. Buch: Escalante, Gariel Reyes. Kamera: Lorenzo Hagerman. Mit Armando Espitia, Andrea Vergara, Linda Gonzalez. Temperclay Film, 105 Minuten.

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