Haruki Murakamis Lauftagebuch:Der Marathonschreiber

Immer bleibt das Laufen aufs Schreiben ausgerichtet: Der Schriftsteller Haruki Murakami hat als Langstreckenläufer viel Erfahrung gesammelt - und bündelt sie in einem faszinierenden Buch.

Alex Rühle

In einem Essay über den Einfluss des Jazz' auf sein Schreiben zitierte der japanische Schriftsteller Haruki Murakami einmal Thelonious Monk, der auf die Frage nach dem Geheimnis seines Klangs gesagt habe: "'Eine neue Note kann es nicht sein. Die Noten sind alle festgelegt, wie Sie an der Klaviatur sehen. Aber wenn es Ihnen auf eine Note wirklich ankommt, klingt sie anders.' An diese Worte erinnere ich mich oft, wenn ich schreibe. Es ist wahr. Es gibt keine neuen Worte. Unser Job (als Schriftsteller) ist es, gewöhnlichen Worten eine neue Bedeutung und spezielle Untertöne zu geben."

Das Unangenehme, Schale an einigen Murakami-Texten ist, dass darin genau eine solche neue Bedeutung behauptet wird, ein Geheimnis, das freilich nur behauptet, nie aber gelüftet wird. Diese Geheimnisse stolzieren durch den Text wie der Kaiser durchs Märchen, nur dass leider kein Kind am Wegesrand steht und sagt, der Kaiser sei ja nackt. In Murakamis neuem Buch hingegen schmiegt sich der Text so glatt und elegant an den Inhalt wie eine enge Läuferhose an ein schöngeformtes Bein.

Haruki Murakami weiß, wovon er redet, wenn er vom Laufen redet: Sieben mal Boston-Marathon. Ein 100-Kilometer-Ultra nebst transzendentaler Merkwürdigkeit. Triathlons. Tägliches Training. Und das seit 26 Jahren. In "Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede" stellt sich Murakami die Frage, warum er das, was er da macht, eigentlich macht. So entstand eine Art Lauftagebuch, gewachsen über drei Jahre, während er sich jeweils auf einen großen Marathon vorbereitete. Da aber für Murakami das Laufen schon biographisch untrennbar mit seinem Schreiben verbunden ist, ist dieses Buch zugleich eine Art poetologische Autobiographie.

Geistige Entleerung

Murakami ist ein seltsamer Mensch. Der Entschluss, Schriftsteller zu werden, überkam ihn völlig unvermutet, am 1. April 1982, während er, ein Bier in der Hand, einem Baseballspiel der Yakult Swallows zuschaute. Er betrieb damals einen Jazzclub in Tokio, es war sein freier Tag, er lag im Gras, durchs Stadion hallte gerade der trockene Klang eines geglückten Schlags, als von außen, überraschend wie ein Eisverkäufer, angeblich der Satz "Ich werde einen Roman schreiben" an ihn herantrat. Danach wurde Haruki Murakami Schriftsteller.

Schreiben aber ist gefährlich. Es ist überraschend zu sehen, welch romantizistischem Autorenverständnis dieser zuweilen als postmoderner Popautor gefeierte Autor anhängt: Ein Schriftsteller ringt in Murakamis Augen fortwährend mit den dunklen Mächten der Seele. Beim Schreiben eines Romans werde "tief im Innern des menschlichen Wesens eine Art Gift abgesondert, das dann zur Oberfläche steigt." Viele Junggenies würden nur deshalb in späteren Jahren nichts Großes mehr schaffen, weil "ihre körperliche Stärke nicht mehr ausreicht, um das Gift, mit dem sie Umgang haben, zu beherrschen."

So folgte das Laufen dem Schreiben auf dem Fuße: Murakami schreibt jeden Tag vier Stunden. Nach diesem Arbeiten im dunklen Bergwerk Ich ist das Laufen ihm dann vitalisierendes Antidot und Zähigkeitsübung. Sicher, er läuft Marathons und Ultras, und sein Jahresrhythmus richtet sich nach den großen Läufen aus. Immer aber bleibt das Laufen aufs Schreiben ausgerichtet. Was aber nicht bedeutet, dass ihm dabei literarische Ideen kämen oder Sätze, im Gegenteil, das Laufen ist eine Art geistiger Entleerung.

Epiphanisches Erlebnis

Das Schöne an diesem Laufbuch ist, dass man von aller Laufmystik verschont wird, von Endorphinerweckungsgerede oder dem langen Lauf zu sich selbst. Um die Leere beim Laufen oder um den großen Endorphinknall nach Stunden der Quälerei wird unter Läufern oft ein mühsames Gewese gemacht. Ja, es gibt sie, aber Murakami schreibt achselzuckend darüber. "Wenn ich laufe, laufe ich einfach. Normalerweise in einer Leere. Oder vielleicht sollte ich es umgekehrt ausdrücken: Ich laufe, um Leere zu erlangen. Die Gedanken, die mir beim Laufen durch den Kopf gehen, sind wie Wolken am Himmel. Sie kommen und ziehen vorüber."

Und die eine große epiphanische Erfahrung, die er machte, hatte nicht Beglückung zur Folge, sondern einen jahrelangen "Runner's Blue": Bei seinem ersten und einzigen Ultramarathon erlebte Murakami nach Stunden totaler Erschöpfung irgendwann einen jähen "Durchbruch, als wäre ich durch eine Mauer gegangen. Plötzlich merkte ich, dass ich auf der anderen Seite war." Nicht dass die Erschöpfung oder der Schmerz danach nachließen, dennoch konnte er die letzten 25 Kilometer fast mühelos laufen. Dieses epiphanische Erlebnis wird knapp erzählt - und führt danach überraschenderweise zu einer fundamentalen Laufkrise, ja zu einem lebensumgreifenden Resignationsgefühl.

Auf den Rahmen seines Triathlonrads hat Murakami "18 'til I Die" gemalt, den Titel eines Bryan-Adams-Hits. "Natürlich ist das ein Witz. Um 18 zu bleiben, bis man stirbt, muss man eben mit 18 sterben", schreibt er mit dem ihm eigenen Humor. Einer, der erst mit 33 Jahren zu laufen beginnt, baut die meiste Zeit seines Läuferlebens ab. "Aber so ist das eben." Von diesem Einwilligen in die eigene Vergänglichkeit, der ruhigen Demut en passant, geht eine merkwürdige Kraft aus, so als laufe der alternde Murakami immer tiefer in den Kreislauf der Natur hinein. "Die Jahreszeiten kommen und gehen, die Jahre ziehen vorüber. Ich werde ein Jahr älter und werde wohl wieder einen Roman schreiben. Eine Aufgabe nach der anderen nehme ich in Angriff und erledige sie, so gut ich kann. Immerhin bin ich ein Langstreckenläufer."

Klare Frische

In seinen "Cahiers" schreibt Paul Valéry, man könne die Sprache auf zweierlei Weise beherrschen: "Entweder wie der Athlet seine Muskeln oder wie der Anatom die Muskeln." Dieses Buch ist auch deshalb so schön, weil hier der Anatom über den Athleten schreibt. Nie will Murakami hier beeindrucken durch Formulierungen (schon gar nicht durch Leistungen oder Zeiten), vielmehr will er nur den kleinen Mann möglichst genau beschreiben, der da einsam durch 165 Seiten läuft, mal in der dampfenden Hitze Hawaiis, mal durch das herbstliche New York - "die Luft ist klar und frisch wie ein mutiger Entschluss" -, mal am winterlichen Charles River entlang.

Murakami zeichnet von sich das Bild eines kantigen, unzugänglichen, eher verschrobenen Menschen, der wenige Freunde hat. Und während man diesem stillen, zähen Mann dabei zusieht, wie er von jungen Harvard-Studentinnen überholt wird, muss man an die einsamen Helden aus seinen Büchern denken. Eine der Stärken des Romanciers Murakamis liegt ja gerade in der Schilderung verlorener Typen, fast schon schrathaftiger Einzelgänger, die sich durch eine ihnen fremde Welt bewegen. Und diese seine Liebe zu Einzelgängerfiguren dürfte ihn gerade für jüngere Leser so faszinierend machen, endlich einer, der sie versteht.

Für seinen Grabstein wünscht sich Haruki Murakami, für den Gehen während eines Marathons einer Kapitulation gleichkäme, die Aufschrift: Schriftsteller (und Läufer) Zumindest ist er nie gegangen. Was für eine gebündelte, stille Kraft dieser Text hat, welche klare Frische, kann man vielleicht daraus ersehen, dass da nach dem Lesen, nachts um halb zwölf, der unbändige Wunsch war, laufen zu gehen.

HARUKI MURAKAMI: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede. Dumont Verlag, Köln 2008. 165 Seiten, 16,90 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: