Hartmut Lange wird 80:Ruhend im freien Fall

Hartmut Lange, 2001

Hartmut Lange wurde in Berlin geboren. Er wirkte als Dramaturg am Deutschen Theater in Ost-Berlin. 1965 verließ er die DDR. Lange schreibt Dramen, Essays und Prosa.

(Foto: Brigitte Friedrich/SZ Photo)

Hartmut Lange hat das "Unheimliche" in seine Texte gebracht. Er spricht von "positivem Nihilismus" - und hat darin seinen Frieden gefunden.

Von Ulrich Rüdenauer

Vor einiger Zeit erzählte der Schriftsteller Hartmut Lange in einem Radiogespräch von den Ursprüngen einer Empfindung, die ihn als Lebensgefühl zuverlässig begleitet hat und die in seinen Texten immer wieder aufscheint: das Unheimliche. Sein Vater, ursprünglich Metzger, war während des Nationalsozialismus ins beamtete Kleinbürgertum "geschlittert" und als Polizist ins besetzte Polen gesandt worden. Einmal saßen Gestapo-Schergen in der heimischen Küche in Posen, die Mützen mit dem Totenkopf-Emblem auf dem Tisch. Von fern war schon der Geschützdonner der Front zu hören, und die Männer sprachen davon, dass die Russen den Kleinkindern den Bauch mit dem Bajonett aufschlitzen würden. "Das war mir unheimlich", erinnerte sich Lange. "Dann habe ich erlebt, wie mein Vater eine alte Polin einsperren ließ. Da war mir dann mein Vater unheimlich. Und ich habe erlebt, wie mein Bruder, der sieben Jahre älter war als ich, Polenkinder verdroschen hat. Das fand ich auch unheimlich."

Die zweite große Unheimlichkeitserfahrung hielt die DDR bereit, wo Lange - er hatte die Schule abgebrochen, war Hilfsarbeiter gewesen und schließlich an der Filmhochschule Babelsberg zum Studium angenommen worden - als Dramatiker und Dramaturg des Deutschen Theaters reüssierte. Er war ein geistiger Schüler Brechts, verkehrte mit Heiner Müller und Peter Hacks, weigerte sich zwar, in die SED einzutreten, ein Parteigänger des Sozialismus war er aber wohl. Die Euphorie fürs Neue Deutschland endete allerdings spätestens mit der Erkenntnis über das Ausmaß der stalinistischen Verbrechen. "Und da habe ich angefangen, mich zu fürchten in der DDR."

Die Furcht zog 1965 eine abenteuerliche Flucht in die Bundesrepublik nach sich. Lange arbeitete auch in West-Berlin weiter als Dramaturg und Dramatiker - bis ihn Anfang der Achtzigerjahre eine philosophische Krise packte, die dritte Unheimlichkeitserfahrung, die in eine neue Werkphase mündete.

Ein Abgrund hatte sich aufgetan, der durch einen LSD-Trip noch tiefer geworden sein muss. Schreib- und Existenzkrise fielen in eins. Der Rationalist, der Lange bis dahin als Leser von Hegel und Marx gewesen war, trudelte nun in seiner transzendentalen Obdachlosigkeit eine ganze Weile haltlos dahin. Halt fand er dann doch. Nicht wie Kierkegaard, indem er sich Gott zu beweisen suchte. Sondern durch die Lektüre Nietzsches und Heideggers, die ihm seine eigenen Erfahrungen widerspiegelten. Lange freundete sich mit der "Willkür des Subjektiven" an. "Im freien Fall" sei er dann irgendwann zur Ruhe gekommen.

Diese gelassene Ruhe des Ratlosen prägen die Bücher der letzten Jahrzehnte; Langes "positiver Nihilismus" bringt eine ungeahnte ästhetische Freiheit mit sich. Neben dem Roman "Die Selbstverbrennung" über den vom Glauben abfallenden Pfarrer Koldehoff und dem erhellenden "Tagebuch eines Melancholikers" wird das vor allem in seinen meisterlichen, konzentrierten, von einem musikalischen Ton getragenen Novellen deutlich, die mit dem Fantastischen, Geheimnisvollen und Schauerlichen spielen. Langes Geschichten neigen der Nachtseite zu; sie sind der Tradition der dunklen Romantik verpflichtet. Edgar Allan Poe scheint bei manchen von ihnen Pate gestanden zu haben. Seine Figuren werden mit den verborgenen Winkeln ihrer Seele bekannt gemacht und mit ihrer Vergänglichkeit; das Bedrohliche lauert ihnen auf. Unerhörte Begebenheiten sind hier meist zugleich "unheimliche Begebenheiten" - so die Gattungsbezeichnung des Bandes "Im Museum", in dem die Geister der Vergangenheit durch die Gegenwart schwirren und sich zugleich ein fundamentaler Geschichtsskeptizismus zeigt.

Die erste seiner zahlreichen Novellen-Sammlungen war 1984 unter dem Titel "Die Waldsteinsonate" herausgekommen. Enthalten ist darin bereits etwas für seine Prosaarbeiten Charakteristisches: die somnambule Sehnsucht der Figuren nach Erlösung, mögen sie Nietzsche, Alfred Seidel oder Kleist heißen - und die Erfahrung, dass das Metaphysische eine Schimäre ist, das Mysteriöse aber sehr wohl existiert. Die Kunst, das führen die Novellen Hartmut Langes auf eindrucksvolle Weise vor, vermag den freien Fall durchs Leben erträglicher zu machen. An diesem Freitag wird der lesende Autor achtzig Jahre alt.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: