Hartmann von der Tann:Der Brandbrief

sueddeutsche.de bringt ihn im Original.

München, 09.02.2006

Dokumentationen, Features und Reportagen

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wie wir gemeinsam im vergangenen Jahr schon festgestellt haben, war die Akzeptanz unserer Dokumentationen am Montag rückläufig. In diesem Jahr, das für endgültige Urteile noch zu jung ist, scheint sich auf dem neuen Sendeplatz die Tendenz nicht nur fortzusetzen, sondern zu verstärken.

Natürlich gibt es Ursachen, die in der Änderung des Sendeplatzes begründet sind: Die starke Konkurrenz durch "Wer wird Millionär" und den meist sehr populären Fernsehfilm des ZDF, das unbefriedigende Ergebnis der vor der Dokumentation gesendeten Serie usw., aber dennoch müssen wir uns fragen, ob es nicht auch an unseren Produktionen liegt, wenn wir dieser Konkurrenz deutlich schlechter standhalten, als es bis zum Jahreswechsel die politischen Magazine taten.

Ich habe mir, auch ganz unabhängig davon, zum Thema Dokumentationen, Features u. Reportagen ein paar Gedanken gemacht, die ich Ihnen darlegen möchte. Damit hoffe ich, eine ergebnisoffene Diskussion anzustoßen, die im Ergebnis weiter vordringt, als die vielen zum Thema bisher geführten.

Ich möchte Sie bitten, das oder die Problem(e) in Ihren Häusern zu diskutieren und dort gefundene Vorschläge oder Lösungsansätze in ein paar Zeilen fest zu halten und den Kollegen zugänglich zu machen. Auf der nächsten Chefredakteurs- und Kulturchefkonferenz am 13./14. März in Frankfurt würde ich das Thema gern ausführlich mit Ihnen diskutieren. Ob und wie wir dann fortfahren, wird von den Resultaten und von Ihnen abhängen.

Dokumentationen/Features Es wird nicht möglich sein, einen Sendeplatz, etwa den am Montag 21.00 Uhr, gänzlich unabhängig vom anderen, Mittwoch 22.45 Uhr, zu diskutieren, da zweifelsfrei ein inhaltlicher Zuschnitt des einen stets Auswirkungen auf den anderen haben wird. Dennoch versuche ich, der größeren Klarheit halber, beide Sendeplätze zunächst getrennt zu behandeln.

Dokumentation am Montag, 21.00 Uhr Dieser Platz ist bisher weitgehend für Reihen oder Serien vorgesehen (Reihe = mehrere Filme mit einem Obertitel, die aber als Filme allein stehen können, z.B. Legenden; Serie = Mehrteiler, bei denen ein Teil inhaltlich den vorangegangenen fortsetzt, z.B. "Die Fünfziger Jahre").

Das war sicher richtig zu einer Zeit, als wir mindestens zwei 45-Minuten-Sendeplätze im Hauptabend des ERSTEN (Mo. 21.45 Uhr und Mi. 21.45 Uhr) hatten und darüber hinaus im Notfall den Reportage-Sendeplatz am Freitag auf 45 Minuten "aufblasen" und "zweckentfremden" konnten. Schon im vergangenen Jahr hat sich die Situation aber verändert. Es gab nur noch einen Sendeplatz am Montag, der in diesem Jahr um 21.00 Uhr beginnt. Der Reportageplatz am Mittwoch kann nicht mehr "aufgeblasen" werden, ohne die Tagesthemen um 15 Minuten zu verschieben. Das wird nur ganz selten möglich sein.

Demnach müssten wir Reihen oder Serien im wöchentlichen Abstand senden. Meines Erachtens ist das mit den Serien nicht machbar, mit den Reihen vermutlich schon, insbesondere wenn sie eingeführt sind. (z.B. Legenden, Große Kriminalfälle usw.)

Das hieße, dass wir deutliche weniger Serien brauchen, weil die nur noch in oder in Verbindung mit Sonderprogrammen (Weihnachten, Ostern) auf den Sender zu bringen sind.

Überdies zeigen uns verschiedene Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, dass es sehr schmerzlich sein kann, über viele Wochen an einer Reihe oder Serien festhalten zu müssen, deren erster oder zweiter Teil schon deutlich macht, dass sie ein Misserfolg werden wird.

Ganz generell habe ich den Eindruck, dass zur Erzielung möglichst andauernder Präsenz eines bestimmten Senders, Themen notfalls auch ein bisschen künstlich auf möglichst viele Folgen gestreckt werden. Das mindert zwar die Chance auf einen Programmerfolg, macht aber die Produktion "preiswerter". Ein Sonderfall dieser Entwicklung sind Zweiteiler, die sich ein "Ereignis" zum Thema gesetzt haben. Ein Schiff zum Beispiel, kann eben nur entweder im ersten Teil untergehen, der zweite wird dann vermutlich langweilig, der es geht im zweiten Teil unter. Dann werden die enttäuschten Zuschauer des ersten Teils kaum mehr zuschauen.

Mit anderen Worten: Ich plädiere, angesichts der Programmstruktur, grundsätzlich für die Rückkehr zu mehr Einzelstücken. Reihen sind auch möglich, sollten aber nicht zu umfangreich (Vorschlag: max. vier Stücke) und möglichst eingeführt sein. Serien sollte es nur noch in geringem Umfang in Sonderprogrammen geben, wenn nicht das / die einbringende/n Haus/Häuser mit der Anmeldung die entsprechenden Sondersendeplätze in der FPK sichern.

Auch an dieser Stelle muss eine schon oft gemachte und protokollierte Bemerkung zu Zahl und Finanzierung der Stücke folgen. Wiewohl ich vielfach um Zurückhaltung gebeten habe, schieben wir immer noch einen "Berg" von angemeldeten Dokumentation vor uns her und es werden auf jeder Konferenz neue angemeldet, die die Anzahl erhöhen. Wiewohl auf Grund der besonderen Strukturen der ARD ein Einblick in die dafür vorgesehenen Finanzmittel nicht möglich ist, liegt der Verdacht nicht selten nahe, dass diese Filme mehrheitlich eher unterfinanziert sind. Das ist zum Beispiel zu bemerken, wenn es um die (Nicht-)Verwendung teurer Archivteile geht. Dem Programm würde es deutlich mehr nützen, wenn - manchmal teure - Qualität vor Quantität ginge.

Natürlich weiß ich, dass das angesichts bestimmter, auch personeller, Strukturen in den Häusern schwierig ist, aber wir werden so lange nicht erfolgreich sein, wie wir senden, was die Häuser liefern, anstatt herzustellen, was der Sendeplatz verlangt.

Der Brandbrief

Damit wären wir bei der Themenfindung - meiner Ansicht nach eines der beiden zentralen Probleme - die wir zu bewältigen haben. Zu Recht wird immer wieder bemängelt, dass der Sendeplatz am Montag kein richtiges Profil habe, weder inhaltlich noch formal. Diese Beanstandungen wären allerdings deutlich glaubwürdiger, würden deren Urheber sich nicht im gleichen Atemzug jeder thematischen oder formalen Verengung erbittert widersetzen. Wir müssen also das Profil des Sendeplatzes klarer definieren und uns dann eventuell sogar daran halten.

Herrn Zubayr von unserer Medienforschung habe ich gebeten, uns dabei, soweit möglich, wissenschaftliche Hilfestellung zu leisten.

Und damit wären wir beim zweiten Hauptproblem: Die Auswahl der Stücke. Das bisherige Verfahren durch die Konferenz der Chefredakteure und Kulturchefs unter besonderer Berücksichtigung des "aufschiebenden Vetos" des Koordinators hat sich als unbefriedigend erwiesen. Zum Einen kann nur angenommen werden, was angeboten wird. Es sollte aber möglich sein, auch Angebote zu initiieren. Zum Zweiten sind der Konferenz und sogar dem Koordinator gelegentlich fatale und zumindest in der Rückschau vermeidbare Irrtümer unterlaufen.

Und zum Dritten kann es vorkommen, dass in dieser Konferenz - mit dem entsprechenden Druck bzw. mit der entsprechenden Mehrheit - auch Projekte gegen jegliche Vernunft verabschiedet werden. Das hängt damit zusammen, dass sich letztlich keiner für den Platz verantwortlich fühlt und so sieht er dann auch aus.

Schon seit langer Zeit überlege ich, wie man einerseits den föderalen Strukturen der ARD gerecht werden, andererseits diese Situation verändern kann. Zu einem endgültigen Ergebnis bin ich noch nicht gekommen, aber eines scheint mir klar: Es muss so etwas wie eine kleine Redaktionsgruppe geben, die den Sendeplatz verantwortlich bespielt.

Das sollten höchstens drei Personen sein, von denen mindestens zwei aus großen Anstalten kommen müssten (um in der Lage zu sein, Projekte anzuregen). Eine/r sollte aus dem Bereich der Chefredakteure kommen, zwei aus dem der Kulturchefs (weil in deren Bereich mehr Redaktionen und Mittel sind).

Und nun die fast utopische Anforderung: Alle drei sollten sich mehr dem Sendeplatz als den Interessen ihrer Häuser verpflichtet fühlen und - natürlich - Fachleute, dennoch weder Chefredakteure noch Kulturchefs sein. Die Gruppe entscheidet auf der Basis des Sendeprofils - falls einstimmig, dann endgültig - über die Annahme eines Projektes und begründet notfalls diese Ratschlüsse in der Konferenz der Chefredakteure und Kulturchefs. Ist keine Einstimmigkeit zu erzielen, fällt unter Leitung des Koordinators die Entscheidung in der Konferenz der Chefredakteure und Kulturchefs, wobei jede Entscheidung so ausführlich protokolliert wird, dass der oder die Befürworter und ihre Argumente auch im Nachhinein klar sind. Die Platzierung erfolgt durch den Koordinator im Einverständnis mit der kleinen Gruppe. Deren Mitglieder werden von der Konferenz der Chefredakteure und Kulturchefs gewählt.

Natürlich bin ich mir darüber klar, dass auch dieser Vorschlag Probleme und Fallen in sich birgt. Hoffnung könnte allerdings die Tatsache machen, dass ähnliche "kleine Gruppen" im Bereich des Fernsehspiels und des Vorabends seit Jahren ganz gut funktionieren.

Eine weitere Aufgabe der kleinen Gruppe könnte sein, die Einhaltung der Termine zu kontrollieren und PR-Maßnahmen zu koordinieren. Erst dieser Tage gab es wieder einen Fall, wo trotz endloser Vorbereitungszeit und ohne jede sich ändernde Aktualität bei einer Reihe der erste Teil mit Mühe bis zur Pressekonferenz fertig war. Die Teile mussten deswegen nach dem Datum ihrer Fertigstellung und nicht nach inhaltlichen Überlegungen programmiert werden. Solche unglaublichen und verantwortungslosen Schlampereien sollten dann nicht mehr vorkommen können.

Doku/Feature am Mittwoch 22.45/23.15 Uhr Vieles von dem, was aus meiner Sicht zum Platz am Montag zu sagen ist, gilt auch für den Mittwoch: zum Beispiel das stetige Überangebot an Stücken. Wie auch immer das Sendeprofil des Montags definiert werden wird, das für den Mittwoch festzulegende wird sicher "anspruchsvoller" sein. Außerdem bin ich dafür, dass wir am Mittwoch, wegen der späten Sendezeit, die vermutlich nicht alle regelmäßig wahrnehmen können, Zwei- oder Mehrteiler ausgeschlossen werden sollten.

In Hinsicht auf den Mittwoch-Sendetermin würde ich gern an den Beschluss erinnern, dass hier in gewissem Umfang "halbaktuell" latente, gesellschaftliche Themen behandelt werden sollen. Zu diesem Zweck wird es nötig sein, neben der Dokumentation - das auch von mir lange Zeit "verpönte" - gute alte Feature wieder zu beleben. Dies könnte übrigens als Beweis angesehen werden, dass es im Fernsehen zwar nichts Neues gibt, aber sinnvoll sein kann, antizyklisch zu handeln. Dabei meine ich nicht das alte "Betroffenheitsfeature", sondern die umfassende, gut umgesetzte, einfallsreiche und praktische Diskussion etwa des Themas: "Globalisierung: Hat die Politik noch das Sagen?" oder "Gesellschaft ohne Kinder".

Das Verfahren, hinsichtlich Annahme der Stücke und Platzierung, würde ich für diesen Sendeplatz bei der bisherigen Lösung belassen.

Reportage am Mittwoch 21.45 Uhr Hier ist mit Ausnahme der Bemühungen dreier Sender, eine Presenter-Reportage zu entwickeln, Stillstand, wenn nicht Rückschritt zu beobachten, und das sehen offenbar die Zuschauer auch so. Es scheint, als würden viele Sender die Reportage wie ein illegitimes Kind der Doku-Branche behandeln und entsprechend alimentieren. Die Themen sind, obwohl wir den formalen und inhaltlichen Rahmen in der letzten Zusammenkunft der Redakteure deutlich erweitert haben, weitgehend die gleichen geblieben, die Umsetzung selten überraschend. Frischer Wind (junge Autoren sollte es doch gerade in dieser Branche genügend geben) und, auch hier in den meisten Fällen, mehr Geld pro Stück sind dringend notwendig.

Bei den Reportagen sollte es bei der Schlussredaktion durch den Koordinator bleiben.

Dies alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist sicher bruchstückhaft und - wie gesagt - ja auch nur eine Gesprächsgrundlage. Vieles, das hier beschrieben wurde, ist Ihnen bekannt, manche der Verbesserungsvorschläge geläufig. Wenn ich an einigen Stellen offener bin als früher, dann sicher deshalb, weil "alte Männer nichts mehr zu verlieren" haben, und weil ich wirklich glaube, dass wir uns unbedingt einen mindestens herzogschen Ruck geben müssen.

Ich bin gespannt auf Ihre Reaktionen.

Mit herzlichen Grüßen

Hartmann von der Tann

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