Harry Potter:Der Menschensohn

Der sechste Harry-Potter-Band hat nicht den Reiz seiner Vorgänger. Er ist ein langes, überlanges Exerzitium, ein aus den Fugen geratenes Beibuch, unterbrochen vor allem vom hilflosen Gefummel, Geschmuse und von den Eifersüchteleien der pubertierenden Jugend.

Von Thomas Steinfeld

Zwei hohe Säulen, auf denen geflügelte Wildschweine stehen, in Stein gehauen, scheinen den Aufgang zu der gotischen Burg im Norden Großbritanniens zu bewachen, als die wir uns das Internat von Hogwarts vorstellen müssen.

Tatsächlich aber geht es auf dem Weg zu dieser Festung der Kinder zu wie auf dem Flughafen Heathrow: Alle eintreffenden und abgehenden Verkehrsmittel werden überwacht, es existieren Passagierlisten, Flugverbote werden verhängt, die Reisenden mit avanciertem Gerät durchsucht und durchleuchtet - und dass es bei diesen Kontrollen nicht um Taschenmesser und Sprengstoff geht, sondern um Zaubersprüche, Bannflüche und allerhand Hexenkram, ist ein zunehmend marginaler Unterschied zwischen literarischer Phantasie und empirischer Wirklichkeit.

Denn es herrscht Krieg im Reich der Zauberer, und Krieg ist Krieg, auch wenn er mit magischen Waffen und Gespenstertruppen ausgetragen wird.

Der Klassenkampf

An diesem Wochenende ist, schon wieder zur maßlosen Aufregung der halben Welt, der sechste Band von Joanne K. Rowlings Romanserie vom Zauberlehrling Harry Potter erschienen ("Harry Potter and the Half-Blood Prince", London, Bloomsbury Publishers 2005). Auch er wird gelesen wie die jüngsten Bücher aus dieser Reihe - Millionen von Kindern und Erwachsenen stürzen sich auf dieses Buch, brennend vor Neugier, wie es weitergehen wird mit dem nunmehr sechzehnjährigen Helden, mit seinen Freunden, Lehrern, Feinden.

Doch wenn erst einmal bekannt ist, wer von ihnen das Ende dieser sechshundert Seiten nicht erleben wird, sinkt die Erregung. Und wenn dieses Mal die Fieberkurve mit dem Erscheinen des Buches besonders steil und hoch ausgefallen ist, dann nur, das sei vorhergesagt, um schneller noch als je zuvor abzuebben.

Denn der sechste Band hat nicht den Reiz seiner Vorgänger, er besteht zu einem großen Teil aus sachlichen und dramaturgischen Vorbereitungen auf das Finale, auf das siebte Buch. Es ist ein langes, überlanges Exerzitium, ein aus den Fugen geratenes Beibuch, unterbrochen vor allem vom hilflosen Gefummel, Geschmuse und von den Eifersüchteleien der pubertierenden Jugend.

So rächt sich, dass dieses Werk so groß, so welt- und epochenumspannend angelegt ist. Als der erste Band erschien, im Jahr 1997, nicht einmal zweihundert Seiten stark, da zog Harry Potter, das von seinen Stiefeltern misshandelte Waisenkind, aus in eine romantische Gegen- und Nebenwelt. In den folgenden Bänden entfaltete sich das Abenteuer, wurde stark, farbig und immer erwachsener.

Der Menschensohn

Im fünften Buch schließlich wurde überdeutlich, was das Werk bis dahin vorangetrieben hatte: ein Kampf zwischen Rassen und Klassen. Denn eine scharfe Linie trennt die Zauberer, die Aristokraten dieses auf einmal gar nicht mehr so phantastischen literarischen Universums, von den "Muggles", den "Schlammblütlern", den gewöhnlichen Sterblichen.

Und Harry Potter, dem Mischling, dem Bastard, dem zu den Menschen herabgestiegenen Überirdischen, kommt die Aufgabe zu, diesen Kampf zu einem Ende zu bringen. Er ist "the chosen one", der Erwählte, der Einzige. Kurz: der Erlöser.

Zerstörte literarische Gegenwart

Diese Erkenntnis zu vermitteln ist die Aufgabe des sechsten Bandes. Aber auf dem Weg dorthin knarzt und ächzt die Konstruktion in allen Fugen. Zu viel Zeit ist vergangen, seitdem der erste Band erschien, acht Jahre sind zu lang für ein solches Werk. Denn mindestens zwei Jahre vergehen für die Leser, während Harry Potter nur eines erlebt. Das so entstehende Parallelogramm wird schief und schiefer.

Die historische Zeit drängt in den Roman. Sie unterwirft, was doch ein einziger, magischer Entwurf hätte sein sollen, dem Vergleich mit der Wirklichkeit und zerstört so die literarische Gegenwart. Um wie viel besser wäre es gewesen, hätte Harry Potter nur ein einziges, wunderbares, endlos langes Schuljahr zur Verfügung gestanden. Nun müssen die Zauberlehrlinge über Dutzende von Seiten in den Ecken stehen und knutschen.

Eine hochmittelalterliche Veranstaltung

"Snogging" heißt das bei Joanne K. Rowling, und eher als dass dieses Wort eine zärtliche Anteilnahme an den Sorgen und Mühen der Protagonisten verriete, offenbart es, wie sehr dieses Projekt auch seiner Autorin zum Problem und zur Last geworden ist. Denn "snogging" ist eine Vokabel aus der Umgangssprache der fünfziger und sechziger Jahre - ein mitleidlos sachlicher Ausdruck für die ersten Begegnungen mit der Sexualität.

Und mehr noch: Hatten die ersten Bände auch von der Phantasie des Zauberns gelebt, vom kindlichen Traum, sich mit magischen Mitteln gegen die Übermacht des Wirklichen durchsetzen zu können, so erscheint der Reiz der Magie im sechsten Band als reichlich abgenutzt: "Impedimenta", "Sectumsempra", "Muffliato" - wer will das alles noch so genau wissen?

Statt dessen beschreibt die Autorin die inneren Auseinandersetzungen im Reich der Zauberer als im wesentlichen hochmittelalterliche Veranstaltungen: Da gibt es auf der einen Seite die guten Zauberer von reiner Rasse - einen Uradel, der seine humanitären Ideale so ernst nimmt, dass er auf seine Privilegien zu verzichten bereit ist und mit den zur Zauberei fähigen Abkömmlingen der "Schlammblütler" gemeinsame Sache macht.

Der Menschensohn

Lord Dumbledore, der Leiter des Internats von Hogwarts, ist die Leitgestalt dieser Fraktion. Da gibt es auf der anderen Seite die bösen Zauberer von reiner Rasse - die Adelsgesellschaft also, die auf den quantitativen Abschluss ihrer Gruppe, auf den biologistisch vermittelten Ehrenkodex bedacht ist.

Dass Lord Voldemort, der dunkle Herrscher, sich ihrer Anhängerschaft gewiss sein kann, obwohl er selbst ein Bastard ist, liegt in der Natur der Sache: Denn das bloße Beharren auf dem Standesprivileg ist unpolitisch. Hier aber soll es um Gewalt über die anderen gehen.

Gestiegene Komplexität

Das klingt nicht nur - das ist kompliziert. Und auch diese Komplexität ist eine Folge der zunehmenden Verschiebung im Parallelogramm zwischen der Zeit, die in diesem Werk, und der Zeit, die für Autorin und Leser vergeht. Die ursprüngliche Sehnsucht nach Erlösung durch eine geistige Elite ist, bedingt durch den Zwang der Serie, durch den Druck des öffentlichen Interesses, durch allgegenwärtige Überinterpretation, einem beschleunigten Altern unterworfen.

Deshalb stapeln sich nun die Motive zu einem nur noch schwer zu überblickenden Haufen - auf den Rassismus folgt unmittelbar die Kritik am Rassismus, auf die Apologie des Bastards die Kritik des Bastards, auf den Traum vom Zauberreich dessen Übergriffe auf die empirische Welt, was den Auftritt eines fiktiven britischen Premierministers gleich zu Beginn des Buches einschließt.

Und weil sich die Autorin ihrer zunehmend bedrängten Lage bewusst ist, versucht sie aufzuräumen: Weshalb die Vorgeschichten, die nachgereichten Genealogien, das nachholende Fundamentieren im sechsten Buch eine so große und zähe Rolle spielen. Und weshalb sie am Ende Zuflucht in einem Motiv sucht, das ebenso trivial ist wie es die ganze phantastische, am Anfang noch mit so viel Liebe ausgestaltete Zauberwelt entwertet: darin nämlich, dass die "Liebe" größer seiner soll als alle Magie.

Die Tragik des Erlösers

Am Ende hat Joanne K. Rowling immerhin eines geschafft: Die Front steht. Die Guten und die Bösen sind identifiziert, der "Halbblutprinz" trägt einen bürgerlichen Namen, die Ideologien und ihre Begründungen hinlänglich bekannt. Die Väter und Patrone sind gestorben, die Schule, diese ebenso positive wie kalte Utopie wider den Rest der Welt, diese Insel Felsenburg eines britischen Humanismus, ist keine Festung mehr.

Die Schlacht kann und muss beginnen, Macht gegen Macht, Mann gegen Mann, Bastard gegen Bastard. Harry Potter wird, das ist gewiss, in diesem Kampf auf irgendeine Weise siegen, wie groß das von ihm zu leistende Opfer auch sein und so stark die Aristokratie der Zauberer dadurch auch zerstört werden wird. Die ganze Tragik, die in dieser Erlösergestalt angelegt ist, wird die Autorin ihrem Publikum nicht zumuten wollen. Sie wird einen Kompromiss finden oder schon gefunden haben. Doch eigentlich rennt Harry Potter seinem Heldentod schon lange hinterher.

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