Gründe für den Terrorismus:Warum sie uns hassen

Gründe für den Terrorismus: Auf seltsamen Umwegen: der indischer Autor und Essayist Pankaj Mishra im Jahr 2015.

Auf seltsamen Umwegen: der indischer Autor und Essayist Pankaj Mishra im Jahr 2015.

(Foto: Stephan Rumpf)

Woher kommt der Hass der Dschihadisten und die Wut der Trump-Wähler? Das fragt der indische Autor Pankaj Mishra in seinem neuen Buch "Das Zeitalter des Zorns". Seine Antworten findet er bei Rousseau.

Von Claus Leggewie

In akademischen Debatten werden Beobachtungen und Bemerkungen gelegentlich mit Namen von Klassikern garniert, die für Argumente stehen sollen. Dafür eignen sich renommierte Intellektuelle der Gegenwart, aber auch die "toten weißen Männer" der Ideengeschichte.

Im jüngsten Buch des indischen Autors Pankaj Mishra ist es Jean-Jacques Rousseau: "ein zorniger Außenseiter in den Pariser Salons, (er) brandmarkte die moderne Kommerzgesellschaft wegen ihrer Verderbtheit und Ungleichheit, lange bevor Adam Smith die klassisch-liberale und moderne kosmopolitische Vision eigennütziger und konkurrierender Individuen und Nationen formulierte".

Wenn Smith die Moderne darstellt, steht der vor mehr als zweihundert Jahren geborene Antipode Rousseau für den ubiquitären Hass, den Mishra heute bei Dschihadisten, den Wählern von Nigel Farage, Donald Trump und Marine Le Pen sowie in der Gefolgschaft indischer, russischer, chinesischer und türkischer Autokraten antrifft.

In dem gut geschriebenen Buch des klugen Autors werden damit leider alle Katzen theoriegrau. Mishras Diagnose über das Zeitalter des Zorns bekommt die jeweiligen Träger dieses Seelenzustands ebenso wenig zu fassen wie die längst nicht mehr bloß akademische Überlebensfrage nach den Ursprüngen des diffusen Antriebsgefühls, das in drei Gestalten auftritt: Zorn, Hass und Ressentiment.

Um die Gründe der Radikalisierung zu erfahren, hat Mishra weder soziologische Analysen konsultiert noch hat er sich, wie in früheren Arbeiten, als ethnografischer Feldforscher aufgemacht.

Historischer Spagat

Stattdessen ist er in die westliche Ideengeschichte eingetaucht, "um unser eigenes Zeitalter des Zorns zu verstehen. Im späten 19. Jahrhundert verübten Franzosen Bombenattentate auf Varietétheater, Cafés und die Pariser Börse, und ein französisches Anarchistenblatt rief dazu auf, das 'Bellecour' zu zerstören, ein Varietétheater in Lyon, in dem 'die Crème der Bourgeoisie und des Kommerzes' nach Mitternacht zusammenkam. Diese Attentäter und Schreiberlinge haben mehr gemeinsam mit den vom IS inspirierten jungen EU-Bürgern, die im November 2015 auf einem Rockkonzert, in Bars und Restaurants in Paris nahezu zweihundert Menschen massakrierten, als wir glauben. Damals wie heute war das Gefühl, von arroganten und betrügerischen Eliten gedemütigt zu werden, weit verbreitet, und zwar quer über nationale, religiöse und rassische Trennlinien hinweg."

Damals wie heute: Dieser historische Spagat scheitert schon am Zentralbegriff des Buches, dem Ressentiment.

Im französischen Original bezeichnet er den heimlichen, tief sitzenden Groll eines Individuums über eine nicht bearbeitete Verletzung und Kränkung. Sören Kierkegaard erblickte im Ressentiment eine spezielle Art von Neid als das "negativ-einigende Prinzip der neuen demokratischen Öffentlichkeit", der dezidiert antiegalitäre Friedrich Nietzsche sah, durch Dostojewski inspiriert, "ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache ... unerschöpflich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen". Hannah Arendt identifizierte einen "gewaltigen Zuwachs an gegenseitigem Hass und ein gewissermaßen universales Sich-gegenseitig-auf-die-Nerven-Fallen".

Rousseau taucht in vielen Gestalten auf

Aus diesen Quellen schöpft bei Mishra "ein Ressentiment, das immer da ist und immer stärker wird, das die Zivilgesellschaft vergiftet und die politische Freiheit untergräbt und das gegenwärtig weltweit eine Wende hin zu Autoritarismus und gefährlichen Formen von Chauvinismus herbeiführt".

Die Wutbürger bejahen das moderne Gleichheitsversprechen, das aber mit dem Gefälle an Macht, Bildung, Status und Privatbesitz kollidiert.

Wo bleibt da der Gärtner von Ermenonville? "Rousseau besaß ein tiefes Verständnis des Ressentiments, auch wenn er den Ausdruck selbst nie benutzte - Rousseau, der erste empörte Diagnostiker der kommerziellen Gesellschaft und der Wunden, die sie der menschlichen Seele durch die Pflicht zur Anpassung an ihre mimetischen Rivalitäten und Spannungen zufügt."

Mishra erhebt Rousseau, der im Original selten zu Wort kommt, zum Kronzeugen einer speziellen Kritik an der Moderne: "Vor dem Hintergrund des aktuellen, nahezu universellen politischen Zorns scheint es, als habe dieser 'größte und streitbarste Hinterwäldler der Geschichte' besser als irgendjemand sonst den aufrührerischen Reiz verstanden und verkörpert, den die Opferrolle in Gesellschaften bietet, die auf dem Streben nach Reichtum und Macht basieren."

Verkörpert und verstanden: Das suggeriert einen perfekten hermeneutischen Zirkel, der sich realhistorisch an der Gestalt Voltaires herausbilden konnte, dieses mondänen, zu Geld gekommenen Salonphilosophen, dem Rousseau nach anfänglicher Bewunderung zuruft "Ich hasse Sie!"

Den Philosophenstreit interpretiert Mishra mit dem Gegenrevolutionär Joseph de Maistre als das "unerledigte Problem der Zivilisation": "Auf der einen Seite stand der 'Vertreter der siegreichen, herrschenden Stände und ihrer Wertungen', auf der anderen ein gemeiner 'Plebejer', der sein urwüchsiges Ressentiment gegen eine überlegene Zivilisation nicht zu überwinden vermochte."

"Rousseau" taucht auf den gut 400 Seiten in vielen Gestalten auf: in den Freiheitskämpfen der deutschen Romantiker und Guiseppe Mazzinis, im Protofaschismus Gabriele D'Annunzios, bei Bombenlegern aller Couleur, in Adolf Hitler und Abu Musab al-Zarkawi.

Husarenritt durch die Gefühlsgeschichte

Rousseaus Urenkel sind Islamisten und Verehrer Trumps, Erdoğans und Putins, die nicht aus religiösen, kulturellen und ideologischen Motiven handeln oder vornehmlich an materieller Ungleichheit leiden.

Mit "Rousseau" erklärt Mishra auch, "wie und warum ein Geistlicher wie Ayatollah Chomeini aus dem Dunkel hervorkommen und zum Führer einer Volksrevolution in Iran werden konnte; warum viele von der Moderne verführte junge Menschen schließlich Zorn auf die Aufklärungsideale Fortschritt, Freiheit und Vervollkommnung des Menschen entwickeln; warum sie Erlösung durch Glauben und Tradition predigen und an die Notwendigkeit von Autorität, Hierarchie, Gehorsam und Unterordnung glauben".

Gelegentlich meint man Mishra vom Leiden der Intellektuellen des "globalen Südens" sprechen zu hören: "Der Schlüssel zum Verhalten des Nachahmers liegt nicht etwa in irgendeinem Kampf gegensätzlicher Kulturen, sondern umgekehrt im unwiderstehlichen Drang nach Anpassung und Imitation: in der Logik der Faszination, der Nachahmung und der aufrechten Selbstbehauptung, die selbst die größten Rivalen unzertrennlich miteinander verbindet."

Leseprobe

Der Husarenritt durch die Gefühlsgeschichte führt am Ende zur unfreiwilligen Apologie des "Islamischen Staates". "Er ist der geschickteste und bestausgestattete Händler in der florierenden internationalen Unzufriedenheitsökonomie. Die Attraktivität der Demagogen liegt in ihrer Fähigkeit, allgemeine Unzufriedenheit, das Gefühl, dass die Dinge entgleiten, Ressentiments, Enttäuschung und wirtschaftliche Unsicherheit aufzugreifen und in einen Plan umzuwandeln, etwas zu tun."

Wer wissen will, warum junge Männer Trucks in einen Weihnachtsmarkt steuern oder beliebige Passanten abstechen, dem antwortet Pankaj Mishra: "Vielen fällt es leicht, ihren Zorn gegen die angeblich kosmopolitische und entwurzelte kulturelle Elite zu richten. Mehr als jemals zuvor braucht man in Krisenzeiten Hassobjekte, und reiche Transnationale verkörpern in geeigneter Weise die Laster einer verzweifelt erstrebten, aber aufreizend unerreichbaren Moderne: Anbetung des Geldes, Mangel an edlen Tugenden wie Patriotismus. So fördert die Globalisierung zwar die Integration geschäftstüchtiger Eliten, ansonsten aber politisches und kulturelles Sektierertum."

Holzschnitt, Kurzschluss und Vereinfachung

Zu dem bestechenden, aber bekannten Befund ist Mishra, der weit bessere Bücher geschrieben hat, auf seltsamen Umwegen gelangt. Das Duell Rousseaus mit Voltaire ist Holzschnitt, der Sprung aus dem späten 18. ins frühe 21. Jahrhundert ein Kurzschluss, die pauschale Kritik an der Moderne und am "Liberalismus" einäugig, die Gleichsetzung der Motive seiner sämtlichen Feinde eine grandiose Vereinfachung.

Nicht weil Islamisten und Islamophobe aus dem gleichen Holz sind, stürzen sie die Welt ins Chaos, sondern weil die extremen Antagonisten im "Westen" denselben Feind gewählt haben, der wahrlich mehr Wertschätzung verdient. Die Nonchalance, mit welcher der "Liberalismus" in toto verabschiedet wird, führt in eine postkoloniale Aporie und eine unpolitische Distanz, ganz so, als möge die unrettbare Welt ruhig zugrunde gehen.

Cover

Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017. 416 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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