Großformat:Durch die Umrisse eines anderen

Der Verlust seiner eigenen Identität ließ den polnischen Künstler Jozef Szajna sein Leben lang nicht los. Er hatte Auschitz und Buchenwald überstanden. Seine Kunst erzählt davon.

Von Sonja Zekri

Es könnte ein überfüllter Strand sein, an dem eine Menschenmenge ins Meer watet. Oder ein gut besuchtes Konzert. Ein Volkslauf. Jedenfalls: ein friedliches, fröhliches Gewusel, und die obere Skizze - mit blauem Kugelschreiber auf eine Serviette hingeworfen - wäre eine erfreuliche Erinnerung. Und doch stört auf dem Bild etwas, die allzu drangvolle Enge, die zermürbende Einförmigkeit, eine Ahnung davon, dass diese Menschen gar nicht freiwillig in der Masse aufgehen möchten. Der polnische Künstler Józef Szajna hatte Auschwitz und Buchenwald überlebt und eine der grausamsten Erfahrungen jener Jahre zum zentralen Motiv seiner Arbeiten gemacht: den Appell. "Wir gleichen leblosen, in einer architektonisch Masse verformten Skulpturen", schrieb er später. Diese Erfahrung des Individualitätsverlustes, symbolisiert auch, aber nicht nur durch die Nummerierung der Häftlinge - in Auschwitz trug er die Nummer 18729, in Buchenwald 41408 - ließ ihn nicht mehr los.

Szajna wurde 1922 als Sohn polnischer Katholiken in Rzeszów geboren, als Widerstandskämpfer in die Lager verschleppt und starb vor zehn Jahren am 24. Juni 2008 in Warschau. Er war außerdem Künstler, Bühnenbildner, Regisseur, Direktor des Theaters im polnischen Nova Huta und experimentierte bereits mit der Verschmelzung von Theater und Kunst, als das auf dem Kunstmarkt noch eher ein Ausschlusskriterium war. Seine riesenhafte, 140 Quadratmeter große Installation "Reminiszenzen" über die Ermordung polnischer Künstler in Auschwitz wurde 1970 auf der Biennale in Venedig gezeigt. Szajna wurde wahrgenommen, sogar bekannt. Nur im sozialistischen Polen und der geschichtsvergessenen Bundesrepublik jener Jahre fanden seine hintergründigen Abstraktionen, seine Gemälde, Zeichnungen, Collagen und begehbaren Skulpturen über deformierte Köpfe und zerrissene Körper, über die Wunden totaler Systeme ein eher mattes Echo, in der DDR galt er als Formalist und damit unzeigbar.

Dass in seinen Werken oft, wie in der Kugelschreiber-Skizze links, eine positive Ambivalenz mitschwang, eine hintersinnige Heiterkeit, machte sein Werk in einer Zeit pathetischer Erinnerungskunst noch schwieriger. "Szajna hatte immer die Hoffnung, dass der Mensch durch selbstkritische Auseinandersetzung mit Unmenschlichkeit klüger wird", sagt Volkhard Knigge, der Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald: "Er wurde mit 18 Jahren nach Auschwitz gebracht, in einen Alter, wo man Pläne für die Zukunft macht. In Auschwitz begriff er, dass seine Zukunft darin bestand, den nächsten Tag zu überleben." Hier, in der Kunstsammlung des ehemaligen Lagers, finden sich Szajnas gewaltige "Reminiszenzen". Für Buchenwald entwarf Szajna auch die beiden anderen hier gezeigten Entwürfe. Aus einer Wand aus Rigipsplatten klappte er die Silhouetten der Häftlinge auf; die Doppelzeichnung zeigt eine Karte der Gedenkstätte mit dem Parkplatz, SS-Kasernen, den Wegen in das ehemalige KZ und einer begehbaren Skulptur. Das physische Durchschreiten des Umrisses eines "Anderen" in Sichtweite des ehemaligen Krematoriums, so hoffte er, würde eine Katharsis auslösen, ein Erkennen und Begreifen. In Zeiten wie diesen gehören Szajnas Silhouetten an jede Straßenkreuzung.

Hier zeigen wir jede Woche neue, unbekannte oder verschollene Werke von Künstlern, Autoren, Architekten, Komponisten, Regisseuren und Designern. Sie sprechen für sich selbst, wir erzählen die Geschichte ihrer Entstehung.

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