Großbritannien/Italien:Reichenklub in Schockstarre

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Kriegsschiff in einer Werft, Riva Trigoso, Italien. (Foto: Frank Schirrmeister/Ostkreuz)

Europa hat den Bezug zur Wirklichkeit verloren, meint Tim Parks. Die Idee von Reichtum und Tugend am Ende.

Von  Tim Parks 

Unter Europa verstehe ich eigentlich einen Kontinent, der etwa zwei Prozent der Erdoberfläche einnimmt und auf dem elf Prozent der Weltbevölkerung leben. Ein komplizierteres Phänomen ist die Europäische Union, die weniger als die Hälfte des europäischen Gebietes umfasst und doch das höchste Bruttoinlandsprodukt aufweist, wenn man es als Einheit denkt.

Aber ist es wirklich eine Einheit? Die EU ist weder ein einheitlicher Staat noch einfach eine Gruppe einzelner Staaten, die untereinander ein paar Freihandelsabkommen abgeschlossen haben. Sie ist eine ungewöhnliche Organisation von Staaten, die bestimmte Teile ihrer Souveränität an übergeordnete Institutionen übertragen und sich anscheinend einem Prozess der immer weiteren Integration und Fusion verschrieben haben. Sie ist deshalb ein work in progress , nur , dass nie etwas vorangeht, und wenn doch, dann nicht entschieden genug. Wie in Firmen mit Mehrheitsbeteiligung sind die Mitgliedsstaaten alle überwiegend souverän; und alle setzen die nationale Identität vor die der Union.

Weshalb wurde dieser bizarre Hybrid geschaffen? Was prägt seinen Geist?

Schulkindern erzählt man, dass die EU geschaffen wurde, um den Krieg in Europa zu beenden; es sei eine gute Gemeinschaft, das Produkt einer pazifistischen Ideologie.

Zugleich wissen wir, dass 1952 alles mit einem protektionistischen Handelsvertrag begann, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Und wir wissen, dass ein Großteil der Energie darauf verwendet wurde, Reichtum und Blüte der Mitgliedsstaaten zu sichern, oftmals auf Kosten der sich entwickelnden Staaten auf dem Globus. Für sie bleiben die Europäischen Märkte verschlossen oder durch hohe Zollschranken versperrt.

Man könnte auch sagen, dass die Union für einen Aspekt bürgerlicher Psychologie steht, der bis ins Florenz der Renaissance zurückverfolgt werden kann. Prägend ist der Wille, beides zugleich zu sein: ein reicher und ein guter Mensch.

Europa hat den Bezug zur Wirklichkeit weitgehend verloren. Seine Tage sind gezählt

Die Anhäufung von gewaltigem Wohlstand reichte den Florentiner Bankiers des 15. Jahrhunderts nicht. Sie wollten darüber hinaus als tugendhafte Philanthropen und Mäzene der Kunst und Religion gesehen werden. Störende Ideen, etwa von christlicher Armut, wurden zurückgedrängt; in Ficinos Neuplatonismus waren Reiche schon durch ihr Reichsein gut.

Die Union ist ein ferner Nachfahre dieser bedenklichen Allianz von Wohlstand und Tugendstreben. Sie muss sich selbst für eine gute Gemeinschaft halten; ihre gesamte Identität hängt an dieser Idee. Zugleich muss sie für den wirtschaftlichen Wohlstand ihrer Mitglieder sorgen. Denn soweit diese ihre Souveränität aufgaben, taten sie es, um gemeinsam reich zu werden. Reich werden und reich bleiben gilt fast schon als Beweis für die eigene Tugendhaftigkeit.

Zwei Ereignisse der jüngsten Vergangenheit haben gezeigt, wie verletzlich dieses Projekt ist.

Das wichtigere ist die gewaltige Einwanderungswelle von Nordafrika nach Südeuropa. Die Union war schnell dabei, die Italiener zu kritisieren, als diese eine harte Linie verfolgten und die Einwanderer lieber ertrinken ließen, als ihnen zu gestatten, nach Europa zu kommen. Dieses Vorgehen war ganz sicher nicht gut. Als dann allerdings die Rettung und Aufnahme der Immigranten zu immer höheren Migrationszahlen führte, hat die Union nicht dabei geholfen, diese Last auf mehr Schultern zu verteilen. Europa ist ein Klub der Reichen, den der globale Wandel in Schockstarre versetzt.

Und wenn ein Klubmitglied, etwa Griechenland, sich als ungenügend oder inkompetent erweist, muss es bestraft werden. Auf der anderen Seite kann es schwerlich ausgeschlossen werden - oder selber austreten. Denn das würde bedeuten, dass die Union gescheitert ist, oder nicht so wohltätig, wie ihr Selbstbild es fordert.

Europa ist auch ein Narrativ, das den Bezug zur Wirklichkeit weitgehend verloren hat. Seine Tage sind gezählt.

Tim Parks, geboren 1954 in Manchester, lebt seit 1981 in Verona. Auf Deutsch erschien zuletzt "Mister Duckworth wird verfolgt" (Kunstmann). Übersetzung: Eva Herzog

© SZ vom 11.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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