Großbritannien:Angeborene Toleranz

Prime Minister David Cameron meets a Syrian refugee family in a settlement camp in the Bekaa Valley in Lebanon

Premier David Cameron nutzte den Besuch in einem libanesischen Flüchtlingslager auch dazu, die Menschen aufzufordern, nicht nach Europa zu kommen.

(Foto: Reuters)

In der britischen Debatte über den richtigen Umgang mit "echten" Flüchtlingen verweist man gerne auf die eigene Vorbildlichkeit.

Von Alexander Menden

Im Oktober 1945 beschwerte sich eine Leserbriefschreiberin in der Zeitung Hampstead and Highgate Express, Deutsch sei ja mittlerweile "eine gebräuchliche Sprache" in ihrem Teil Londons geworden, dazu merkte sie an: "Es ist doch sicher nicht ganz unlogisch, sich auf eine Zeit zu freuen, in der Deutsch hier wieder die Ausnahme statt der Regel sein wird."

Zu jener Zeit lebten gut 9000 Kriegsflüchtlinge im Nordlondoner Stadtteil Hampstead, die meisten von ihnen Juden aus Deutschland und Österreich. Im selben Monat unterschrieben rund 2000 Bewohner Hampsteads eine Petition. Darin wurde das House of Commons aufgefordert, für die "rasche Rücksiedlung der Tausenden österreichischer und deutscher jüdischer Flüchtlinge" zu sorgen, "die so viele Häuser und Wohnungen hier in Fabriken und Werkstätten verwandelt haben, Häuser und Wohnungen, die jetzt dringend für unsere heimkehrenden Töchter und Söhne, für unsere evakuierten Töchter und ihre Kinder benötigt werden". Diese Petition griff eine Argumentation auf, die im Nachkriegsbritannien gang und gäbe war, und ihren Widerhall in der Times fand. Die Fremden müssten so rasch wie möglich heimgeschickt werden, nicht nur, um beim Wiederaufbau ihrer eigenen Länder zu helfen, sondern auch, um Ressourcen für Einheimische und Kriegsheimkehrer freizumachen.

Die britische Reaktion auf größere Flüchtlingsgruppen ist stets feindselig ausgefallen

Es ist bemerkenswert, wie wenig sich diese Argumentation in den vergangenen sieben Jahrzehnten verändert hat. Jüngst mahnte Steven Woolfe, Europa-Abgeordneter der UK Independence Party (Ukip), 1,8 Millionen Menschen im Vereinigten Königreich lebten bereits in Sozialwohnungen. Angesichts dessen sei es "sehr gewagt", weitere Flüchtlinge ins Land zu lassen, während doch mehr als 9000 ehemalige britische Soldaten ohne Obdach seien: "Der Job eines Premierministers ist es, nicht nur ein Herz, sondern auch ein Hirn zu haben", so Woolfe.

Nicht erst, seit Premier David Cameron nach langem Zögern und unter Druck der europäischen Partner erklärte, dass sein Land 20 000 Syrer direkt aus Flüchtlingslagern im Nahen Osten aufnehmen wolle, wird die Debatte über den vermeintlichen oder tatsächlichen Sonderstatus Großbritanniens in Sachen Asyl- und Flüchtlingspolitik mit großer Leidenschaft geführt. Und nicht nur die Rechtspopulisten von Ukip vermischen das Thema mit der permanent brodelnden Immigrationsdiskussion. Laut einer BBC-Umfrage sind mehr als die Hälfte der Befragten dagegen, mehr Flüchtlinge aus Syrien oder Libyen ins Land zu lassen.

Die Zuwanderung nach Großbritannien, die im vergangenen Jahr ein neues Rekordniveau erreichte - es kamen 330 000 mehr Einwanderer ins Land, als Menschen es verließen - wurde von Camerons eigenem Migrations-Staatssekretär James Brokenshire als "überaus enttäuschend" bezeichnet. Es gebe "einfach zu viele Immigranten", findet die Sunday Times. Die gut 25 000 Menschen, die von Juni 2014 bis Juni 2015 in Britannien um Asyl nachsuchten - in Deutschland waren es im gleichen Zeitraum etwa zehnmal so viele - sind damit ebenso gemeint wie EU-Ausländer und ausländische Studenten. Innenministerin Theresa May macht das Schengen-Abkommen für die Flüchtlingskrise mitverantwortlich.

Diese Festungsmentalität ist nicht neu. Ganz gleich, ob es griechische Zyprioten waren, die von den Türken aus dem Norden ihrer Insel vertrieben worden waren; Inder, die vor Idi Amin aus Uganda flohen, oder Kosovo-Albaner nach dem Balkankrieg - wenn man auf die vergangenen Jahrzehnte blickt, ist die britische Reaktion auf größere Flüchtlingsgruppen stets feindselig ausgefallen. Wie verträgt sich eine solche Stimmungs- und Gemengelage mit dem unerschütterlichen Selbstbild der Briten als tolerantestes, weltoffenstes Land Europas?

Die Geschichte der Britischen Inseln als Zufluchtsort für politisch, ethnisch oder konfessionell Verfolgte ist lang und wechselvoll. Die Hugenotten bildeten die erste große Flüchtlingswelle der Neuzeit. Ende des 17. Jahrhunderts kamen an die 50 000 calvinistische Protestanten aus Frankreich, nachdem König Ludwig XIV. ihnen Religionsfreiheit und Bürgerrechte entzogen hatte. Ihnen folgten im 18. Jahrhundert askenasische Juden von der Iberischen Halbinsel, aus Deutschland und den Niederlanden.

Ein aus heutiger Sicht interessanter Fall waren die Flüchtlinge aus dem deutschen Kurfürstentum Pfalz im Jahre 1709. Nach einem besonders kalten Winter und den extremen Härten des Spanischen Erbfolgekrieges verbreitete sich am Mittelrhein die Nachricht, in England würden Protestanten eingebürgert, bekämen Land und würden für ein Jahrzehnt von der Steuer befreit. Vor allem aber winke dort Religionsfreiheit. Die rund 15 000 Pfälzer, die binnen weniger Monate nach England übersetzten, stellten die Briten vor extreme Herausforderungen. Als sich zwei Jahre darauf zeigte, dass die Ansiedlung der Neuankömmlinge bereits mehr als 135 000 Pfund gekostet hatte, wurden die Einbürgerungsregelungen geändert. Besonders die Tories - David Camerons Partei war schon damals im Parlament vertreten - attackierten die oft schlecht ausgebildeten, des Englischen unkundigen "poor Palatines" als katholische Strolche, die "unserem eigenen Volk das Brot aus dem Munde stehlen". Die gescheiterte Integration der Pfälzer, von denen viele enttäuscht heimkehrten oder in die amerikanischen Kolonien weiterverschifft wurden, diente den Tories in Asyl-Debatten mehr als einmal als Paradebeispiel dafür, dass die Aufnahme von Flüchtlingen im Chaos enden müsse.

Seinen Ruf als Land mit entspannten Einwanderungsregelungen erwarb Großbritannien sich im 19. Jahrhundert. Damals gab es Jahrzehnte lang keine Einreise- oder Ansiedelungsbeschränkungen. Politische Flüchtlinge nach der deutschen Märzrevolution und russische Juden, die vor zaristischen Pogromen flohen, kamen ins Land. Im Ersten Weltkrieg nahm Großbritannien Tausende von Belgiern auf - und schickte sie 1918 nach Belgien zurück.

In der gegenwärtigen Debatte wird mit Verweis auf diese Historie betont, wie großzügig die Briten die Verfolgten der Welt aufnahmen, "echte Flüchtlinge", wie es in der Daily Mail oft heißt. Dabei wird vergessen oder verschwiegen, dass ein Gutteil der Bevölkerung diese Flüchtlinge nicht mit offenen Armen begrüßte. Auch im 19. Jahrhundert tauchte der Begriff "sogenannte Flüchtlinge" schon in der Daily Mail auf.

Eine herausgehobene Rolle spielt dann der Zweite Weltkrieg. Besonders der Umstand, dass der britische Staat jüdischen Flüchtlingen Asyl gewährte, ist heute ein konstitutives Element der britischen Nachkriegsidentität. Bei Erinnerungsveranstaltungen rund um den Zweiten Weltkrieg wird nicht nur der Verteidigung der Heimat, sondern gleichberechtigt auch der Rolle Britanniens als Zuflucht für die europäischen Juden gedacht. Es herrscht sogar die irrige Ansicht, Großbritannien sei vor allem in den Krieg eingetreten, um die Juden zu retten.

Tatsächlich regte sich aber, wie bei fast jeder Immigrationswelle, auch gegen jene, die vor den Nazis flohen, Widerstand in allen Gesellschaftsschichten, speziell bei einigen Gewerkschaften und in Teilen der Presse. Ein Leitartikel des Sunday Express sprach 1938 davon, "ausländische Juden" seien dabei "unser Land zu überrennen" - nicht unähnlich den "Menschenschwärmen", vor denen David Cameron unlängst warnte. "Zurzeit gibt es keine Intoleranz in Britannien", so der Express-Autor. "Indem wir die Gründe für die Intoleranz gegenüber Juden in anderen europäischen Ländern im Auge behalten, werden wir jene Juden, die sich bei uns schon häuslich eingerichtet haben, gut behandeln können."

Privatpersonen reisen nach Calais, um dort Flüchtlinge mit Decken und Zelten zu versorgen

Gleichwohl war die Hilfsbereitschaft hoch. Bis zum Kriegsbeginn hatte das Vereinigte Königreich rund 80 000 jüdische Flüchtlinge aufgenommen, davon 10 000 allein reisende Minderjährige auf dem sogenannten Kindertransport. Auch in der schwierigen Nachkriegssituation gab es Solidarität. Die Hampstead-Petition rief eine Gegenpetition und Proteste hervor. Ein Leserbrief nannte sie "eine Wiederholung jener Nazi-Bigotterie, deren logische Folge in Belsen bloßgelegt wurde".

Zudem gibt es zahlreiche Beispiele individueller Großzügigkeit und Menschlichkeit, von der Bereitschaft, Ressourcen zu teilen bis hin zur Adoption von Kindern aus dem Kindertransport. Und genau, wie sich in der gegenwärtigen Situation die latente Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen fortsetzt, macht sich zugleich auch wieder diese Tendenz zur Hilfsbereitschaft in typisch anglo-individualistischer Tradition bemerkbar.

Die britische Regierung drängt darauf, möglichst wenige Anreize für die Migration nach Europa zu bieten. Hilfsgelder fließen direkt in die Camps im Nahen Osten, zur Koordination dieser Hilfe wurde sogar ein eigener Staatsministerposten für syrische Flüchtlinge eingerichtet. Selbst David Camerons als Solidaritätsgeste avisierter Besuch in einem libanesischen Flüchtlingslager an diesem Montag nutzte der Premier vor allem dazu, die Menschen nachdrücklich aufzufordern, nicht die Reise nach Europa anzutreten.

Derweil sammeln Privatpersonen Sachspenden und reisen nach Calais, um dort vor dem Kanaltunnel ausharrende Flüchtlinge mit Decken und Zelten zu versorgen. Liberty Hughes, eine 28-jährige Studentin, hat eine Facebook-Kampagne für das Lager in Calais gestartet. Viele Menschen wollten "nicht einfach nur einen Knopf drücken und Geld schicken, sondern selbst nach Frankreich fahren und die Menschen dort einfach mal umarmen", sagt sie. Wie so oft in diesem Land ersetzt privates Engagement eine effektive, kohärente politische Strategie.

Die Art, in der die Briten ihres Umgangs mit Flüchtlingen gedenken, ist selektiv. Man unterscheidet sie in der Rückschau, die komplexe Umstände wie Konflikte und Spannungen großzügig übersieht, bis heute nach den alten Daily Mail-Kategorien zwischen "echten" und "angeblichen". All jene, die heute als Genuine Refugees gelten, die Hugenotten, die vom Zaren oder von Hitler vertriebenen Juden, selbst die indischen Flüchtlinge aus Uganda, haben eines gemeinsam, wie der Historiker Tony Kushner konstatiert: "Sie gehören alle der Vergangenheit an. Selbst wenn manche noch leben und bei uns wohnen, werden keine weiteren von ihnen hinzukommen. Sie haben saubere, abgeschlossene Geschichten, die mit einem konstruierten Happy End des Erfolgs und der Integration in die britische Gesellschaft enden."

Die britische Zuwanderungsdebatte ist in fast allem deckungsgleich mit entsprechenden Diskursen in anderen westlichen Ländern. Was sie von diesen unterscheidet, nennt Kushner die "Mythologie" einer "angeborenen Toleranz", den "Glauben an die gute und faire Behandlung echter Flüchtlinge". Eine autosuggestive Strategie also, mithilfe derer Politik und veröffentlichte Meinung in Großbritannien sich ein immenses historisches Kapital im vorbildlichen Umgang mit Flüchtlingen gutschreiben. Mit diesem Guthaben im Rücken fällt es leicht, sich Flüchtlingsquoten zu verweigern und wie ein unbeteiligter Beobachter die gescheiterte Migrationspolitik der Europäischen Union zu verdammen.

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