Grass im Dritten Reich:Allseits gescholtener Selbstentlarver

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Der Beweis: Personalerfassungsbogen aus der US-Kriegsgefangenschaft, aufgenommen in der Berliner Wehrmachtsauskunftsstelle. (Foto: Gero Breloer/dpa)

Seine Vergangenheit bei der Waffen-SS enthüllte Günter Grass spät. Für manche zu spät - das Bekenntnis löste heftige Reaktionen aus.

Von Franziska Augstein

Sich selbst "auf die Schliche" kommen wollen, wie der 2008 verstorbene große Dichter Peter Rühmkorf es formulierte, gehört zu dem, was Schriftsteller antreibt. Günter Grass hatte ein anderes Wort dafür: Er wollte sich selbst "entdecken". Und so entdeckte er, als er seine Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" verfasste, dass er als Siebzehnjähriger in der Waffen-SS war.

Der Furor 2006 war groß. Etliche Feuilletonisten entdeckten sich als Moralisten: Wie konnte Günter Grass, der als das "Gewissen Deutschlands" - und im Wahlkampf für Willy Brandts SPD - durch die Lande gezogen war, so eine Schandtat jahrzehntelang verborgen haben! Ja, wie konnte er?

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Günter Grass war ein Mann mit vielen Leidenschaften. Zum Ende seines Lebens hin führte er noch manche Auseinandersetzung.

Wer 1927 zur Welt gekommen war, wusste Anfang der Vierzigerjahre, dass er demnächst in den Krieg eingezogen werden würde. Die Frage war nicht, ob, sondern wo. Das war eine wichtige Frage. Viele meldeten sich freiwillig zur Wehrmacht, weil sie sich eine Waffengattung aussuchen wollten, bei der sie ihre Überlebenschancen höher einschätzten. Für Günter Grass galt das nicht: Schon bevor er "Beim Häuten der Zwiebel" publizierte, hat er öffentlich gesagt, dass er bis Kriegsende an den "Endsieg" geglaubt habe.

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An sich wollte er zu den U-Boot-Kommandos (wie schlecht die Überlebenschancen da waren, konnte er als Junge übrigens nicht wissen). Es verschlug den Siebzehnjährigen dann 1944 zur SS-Panzerdivision "Frundsberg", die vor allem an der Westfront eingesetzt wurde. Grass sagte, er sei einberufen worden - ob mit oder ohne seine Zustimmung, sagte er nicht. Nach damaligem Verständnis waren die SS-Uniformen ausgesprochen schick (manche schätzen dieses Outfit heute noch als Fetisch-Ware). Sollte Grass sich auf strenge Einladung hin gemeldet haben, wäre er nicht der einzige junge Mann gewesen, der nach ästhetischen Kriterien in den Krieg zog.

In Gefangenschaft zum Demokraten umgebildet

Grass war nur einige Monate in der Division "Frundsberg". Dann war der Krieg vorbei, und er kam in Gefangenschaft bei den Amerikanern. Da begann seine Umbildung zum Demokraten. Er blickte zurück, fragte sich, was da geschehen war, auch mit ihm, und kam zu dem Schluss, dass es in der Weimarer Republik "zu wenig Bürger gegeben" hatte, "die sich vor diese Republik stellten". Das ließ er sich eine Lehre sein, er wollte es künftig besser machen.

Günter Grass bat nach seinem SS-Geständnis beim früheren israelischen Botschafter um Vergebung. (Foto: AFP)

Nicht Eitelkeit war es, die Grass viele Jahre lang bewog, sich immer wieder öffentlich zu Wort zu melden und auch das Gespräch mit Leuten in Fußgängerzonen nicht zu scheuen, sondern die Einsicht, dass die junge westdeutsche Demokratie Unterstützung brauchte: Viel braunes Gesocks hatte nämlich den Systemwechsel mühelos überwunden. Mancher, der Grass zugutehielt, dass er sein Scherflein zur Demokratisierung der Bundesrepublik beigetragen hatte, fragte 2006, warum er nicht früher seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS offenbart hatte. Lag es vielleicht daran, dass dieses Eingeständnis ihn für den Nobelpreis disqualifiziert hätte?

Wer so denkt, übersieht, dass Schriftsteller, die ihren Beruf seit Jahrzehnten ausüben, ein wenig in ihrer eigenen Welt leben. Der ganz banale Opportunismus liegt den meisten nicht. Wäre Grass so berechnend gewesen, hätte er damit schon früher angefangen, als er noch nicht genau wusste, wie er im kommenden halben Jahr die Miete seiner Wohnung bezahlen sollte.

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Nachdem er für seine Selbstentlarvung als SS-Soldat nicht bewundert, sondern allseits gescholten wurde, war es Grass mehr als mulmig zumute. Davon zeugt ein Brief, den er dem ehemaligen israelischen Botschafter Yitzchak Mayer schrieb und - damit alle sähen, dass er in sich gegangen war - von der Frankfurter Rundschau publizieren ließ: "So kann ich nur bitten", schrieb Grass, "dass alles, was nach meinem siebzehnten Lebensjahr meine umwegreiche Entwicklung ausgemacht hat, und was sich erkennen lässt als das, was ich als Schriftsteller und Künstler sowie als engagierter Bürger meines Landes geleistet habe, als Gegengewicht wahrgenommen wird."

So eine hilflose Bitte um Vergebung, so ein Plädoyer, man möge ihn doch bitte weiterhin achten, weil er doch auch vieles gut gemacht habe, schreibt nicht, wer von sich selbst nicht genug bekommen kann.

Dass Günter Grass als Jugendlicher in der Waffen-SS war, ist keine unverzeihliche Sünde. Es diskreditiert den Mann auch nicht, weder den politisch engagierten Demokraten noch den Schriftsteller.

© SZ vom 14.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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