Graphic Novel "Der Bildhauer":Superheld der Kunstszene

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"Wir kommen alle ins Rutschen" - der junge Bildhauer David ist gar nicht gut drauf. Abb.: Carlsen Verlag (Foto: N/A)

Ein Denker, der Spannungsbögen konstruiert - kann das gutgehen? Scott McCloud gilt als Cheftheoretiker des Comic, doch nun legt er selbst eine Graphic Novel vor. Und die hat sogar Drive.

Von Thomas von Steinaecker

Zu viel Theorie ist der Tod jeder Kunst. Treten Ideen in einem Buch, einem Film oder einer Komposition zu sehr in den Vordergrund, wird das Ganze für den Rezipienten zur quälend trockenen Angelegenheit. In Romanen wirken Figuren dann schnell "papieren", eine Handlung "ausgedacht". Doppelbegabungen, also zum Beispiel Schriftsteller, die sich einen Namen als Literaturwissenschaftler machen oder umgekehrt, Theoretiker, die als Schriftsteller reüssieren, sind selten.

W. G. Sebald, der Literaturprofessor, der mit 44 Jahren seinen ersten Gedichtband veröffentlichte, bevor er mit seinen Erzähltexten weltweit Furore machte, bleibt die Ausnahme. Einen Roman von Adorno will man sich lieber nicht vorstellen, ebenso wie Schriftsteller besser nicht ihre Zaubertricks verraten sollten.

Der US-Amerikaner Scott McCloud gilt in der Comicwelt als der Cheftheoretiker schlechthin. 1993 hat er "Understanding Comics", eines der ersten und wichtigsten Werke über die Neunte Kunst, veröffentlicht, für das immer noch gilt: Es gibt keine genauere und zugleich unterhaltsamere Abhandlung darüber, wie diese so einfach wirkenden und dabei extrem komplexen Geschichten aus Bildern funktionieren.

Eine Comictheorie in Comicform, darauf musste man erst einmal kommen. Zwei weitere, ebenfalls Epoche machende Bücher über die Geschichte und Zukunft des Comics folgten. Und nun also, nach einigen frühen Superhelden-Comics in den Achtzigern, eine Graphic Novel, die, oberflächlich betrachtet, wie die ideale Umsetzung dessen wirkt, was ein gezeichneter Roman landläufig zu sein hat: "Der Bildhauer" ist ein 500 Seiten-Opus, in Schwarz- und Blautönen, über einen Bildhauer, ein Comic über Kunst also.

Und ganz klassisch, um nicht zu sagen archetypisch ist auch das Grundgerüst der Fabel, die hier erzählt wird. Der Bildhauer David Smith ist Mitte zwanzig und doch schon am Ende. Voller Erwartungen hat er sich in das New Yorker Kunstleben gestürzt, aber der Erfolg stellte sich nicht ein, er ist pleite, bald muss er aus seiner Wohnung raus, die Niederlagen haben ihn zu einem sich in Selbstmitleid suhlenden Zeitgenossen gemacht.

Ein faustischer Pakt

Da sitzt ihm eines Tages in einem Fast-Food-Restaurant plötzlich sein alter Onkel Harry gegenüber. Das Problem: Eigentlich ist der schon lange tot. Aber ehe sich David darüber wundern kann, hat der Bote aus dem Totenreich ein verführerisches Angebot für den verhinderten Künstler: Er könnte ein Superheld der Bildhauerei werden, jedes Material wird er mit seinen bloßen Händen formen können - er muss nur einwilligen, nach 200 Tagen zu sterben.

Ein faustischer Pakt, dessen Ausgang und Moral wir alle schon kennen. Natürlich führt absolute Wunscherfüllung direkt ins Unglück, und am Ende heißt es dann: "Verweile doch, du bist so schön."

Und in der Tat glaubt man zunächst, McCloud erfülle gewissenhaft sämtliche Erwartungen an die alte Geschichte. Für eine Vernissage schafft David wie im Rausch eine Unzahl aufwendiger Skulpturen. Hier zeigt sich aber schon die erste entscheidende Abweichung vom Faust-Stoff: David hat zwar übermenschliche Fähigkeiten, diese sind aber keine Garantie für Erfolg.

Auch bei seinen Ideen hapert es: Seine Kunstwerke sind der reinste Kitsch. Selbst die Verpfändung seines Lebens hat ihm daher wenig gebracht, als Künstler ist er gescheitert und lebt alsbald mittellos auf den Straßen New Yorks. Und natürlich lernt er in diesem Moment die ebenfalls erfolglose, dafür aber umso zauberhaftere Schauspielerin Meg kennen, und natürlich verliebt er sich in sie. Derweil verstreicht die Zeit unerbittlich, und natürlich wird David gerade in jenem Moment am meisten auf der Erde gebraucht, als es für ihn eigentlich Zeit ist zu gehen.

Gerade hier, am Ende der Graphic Novel, ist es ein Vergnügen zu sehen, wie geschickt McCloud mit dem Muster des vermeintlich bekannten Plots spielt und Erwartungen ins Leere laufen lässt.

Aber eigentlich achtet man zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr darauf. Denn "Der Bildhauer" ist zuallererst ein Comic mit einem atemberaubenden Drive, dessen melodramatischem Sog man sich so gerne überlässt wie einem guten Hollywood-Blockbuster.

Da verwundert es nicht, dass die Verfilmung von "Der Bildhauer" bereits in trockenen Tüchern ist. Dank Davids übermenschlicher Fähigkeiten gibt es reichlich Momente für Spezialeffekte, die im Kino noch eindrucksvoller wirken werden als im Comic; die Liebesgeschichte zwischen David und Meg, ihre Liebe auf den erstenBlick, das manische Auf und Ab, geht zu Herzen, der Griff nach dem Taschentuch beim Finale ist garantiert.

Hinzu kommt, dass hier viele "große" Themen angeschnitten werden, ohne dass sie - wie bei einem Comic-Theoretiker zu befürchten - zu aufdringlich abgehandelt würden: der verlogene Kunstmarkt; die Frage, wie weit man für die Verwirklichung der eigenen Vision gehen sollte, und schließlich das Vanitas-Motiv, an dem McCloud höchst eindrucksvoll das Wesen des Comics als wahrscheinlich einzige Kunst veranschaulicht, die, nach Lessings "Laokoon", als Einzelbild, sowohl dem Raum wie, als Sequenz, der Zeit angehört.

Mehr Theoretiker im Autor wäre sogar wünschenswert gewesen

Die letzten Seiten von "Der Bildhauer" sind denn auch von einer Dramatik und Brillanz, wie man sie nicht oft in der Neunten Kunst erlebt.

Und trotzdem bleibt ein manchmal nicht angenehmer Beigeschmack: So klar und glatt wie McClouds Zeichenstil fallen auch seine Charaktere aus, vor allem die Männerfantasie Meg in ihrem Schulmädchenoutfit. Selbst bei den überraschendsten Wendungen beschleicht einen das Gefühl, das alles doch schon irgendwo einmal gelesen und gesehen zu haben, sei es bei Murakami oder in Mystery-Romanzen à la "Vanilla Sky".

So mag "Der Bildhauer" der seltene Fall sein, bei dem man sich am Ende doch gewünscht hätte, dass der Theoretiker im Autor ab und an öfter durchgekommen wäre und ein wenig mehr Innovation gebracht hätte.

Scott McCloud : Der Bildhauer. Graphic Novel. Aus dem Englischen von Jan-Frederik Bandel. Carlsen Verlag, Hamburg 2015. 490 Seiten, 34,99 Euro.

© SZ vom 19.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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