Goldener Löwe für Lav Diaz:Venedig verweigert sich dem Kommerz

Closing Ceremony - Arrivals - 73rd Venice Film Festival

Das Drama von Regisseur Lav Diaz ist beim Filmfestival von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet worden.

(Foto: Getty Images)
  • Das Drama "The Woman Who Left" hat den Goldenen Löwen der 73. Internationalen Filmfestspiele von Venedig gewonnen.
  • In dem vier Stunden dauernden Schwarz-Weiß-Film erzählt der philippinische Regisseur Lav Diaz die Geschichte einer Frau, die zu Unrecht des Mordes verurteilt worden ist.
  • Die Entscheidung der Jury macht Festivals vielleicht zum letzten Ort, der sich Sequelitis und Superhelden verweigert.

Von Susan Vahabzadeh und Thomas Steinfeld

Die Jury hat Lav Diaz' Drama "The Woman Who Left" mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet, einen Film, der kommerziell wenig Chancen hat. Diese Entscheidung ist ein Bekenntnis zu den Grundlagen des Kinos, den technischen wie den moralischen. Denn wenn der Kameramann (der in diesem Fall mit dem Regisseur identisch ist) etwas "aufnimmt", hat dieses Wort einen doppelten Sinn: Es heißt zunächst, dass etwas registriert wird, in einem technischen Medium. Es bedeutet aber auch, dass etwas geborgen oder gerettet wird, vor dem Vergessen, vor dem Wegsehen, vor einer amorphen Unkenntlichkeit, die allem wiederfährt, das nicht so sichtbar gemacht werden kann, dass ein (möglichst großes) Publikum davon erfährt.

Der Filmemacher Lav Diaz überträgt in "The Woman Who Left" Tolstois Erzählung "Gott sieht die Wahrheit, aber er wartet" (1872) in die Philippinen kurz vor der Jahrtausendwende. Der Film dauert vier Stunden, eine kurze Zeit, gemessen an früheren Werken des philippinischen Regisseurs. Die Zeit, und die in ihr gemessene Aufmerksamkeit, dienen hier als eine Art Tribut oder sogar als eine Wiedergutmachung gegenüber der Gleichgültigkeit der Gewalt, die scheinbar gegenüber dem Schicksal vieler einfacher Menschen herrscht.

Der Film "The Woman Who Left" erzählt von einer Frau namens Horacia, die dreißig Jahre in einem Arbeitslager verbringen muss. Sie wurde wegen eines Mordes verurteilt, den sie nicht begangen hat. Als sich die wahre Täterin offenbart, kehrt sie zurück in eine Gesellschaft, die nicht mehr die ihre ist: Ihr Mann ist tot, ihre Tochter führt ein fremdes Leben, der Sohn ist verschwunden. Und je mehr sich ihr auf einer langen Wanderung durch die unteren und untersten Schichten der Philippinen eine neue Gesellschaft entfaltet (und eine alte, in Gestalt einer mafiösen Oberschicht), desto diffuser wird das Motiv der Rache, die sie an dem Mann nehmen will, der ihr Leben zerstörte (aber hat er es wirklich zerstört?).

Lav Diaz hat ein Lehrstück geschaffen

In langen, stillen Einstellungen ist dieser Film komponiert. Je mehr jedes Bild aus der Bewegung des Films heraustritt und für sich allein betrachtet werden will, in Schwarz-Weiß und in unendlichen Variationen des Goldenen Schnitts, desto enger rückt die Botschaft des gesamten Unternehmens an Leo Tolstois Vorstellungen vom Bösen heran, dem man gewaltlos zu widerstehen habe. Das gilt besonders für die vielen Nachtaufnahmen in ihrer graphischen Konzentriertheit. Und sollte der Tag dafür sorgen können, dass die Verhältnisse komplizierter und hässlicher werden, so scheint sich eine besondere, den Hintergrund ins Diffuse rückende Lichttechnik darum zu kümmern, dass die moralischen Schwierigkeiten nicht überhand nehmen. Mit "The Woman Who Left" hat Lav Diaz ein Lehrstück geschaffen, ein Bekenntnis zur didaktischen Einfachheit.

Die Entscheidung der Jury macht Festivals vielleicht zum letzten Ort, der sich Sequelitis und Superhelden verweigert. Ein Ort, an dem sich ein Publikum zusammenfindet, das nicht vom Alltag getrieben ohnehin Vorbehalte hat gegen einen Film, der so viel Zeit und Energie abverlangt.

Venedig erfindet sich als Publikumsfestival neu

Und Venedig hat einen neuen Weg eingeschlagen. Der Plan, dem Festival mit einer Filmmesse mehr Attraktivität zu verleihen, wie es die Konkurrenz und Berlin macht, spielt keine Rolle mehr, dafür erfindet sich Venedig gerade als Publikumsfestival neu, was Cannes nun überhaupt nicht ist. Es sind in den letzten Jahren auf dem Raum, den es schon vorher gab, hunderte zusätzliche Plätze entstanden.

In diesem Jahr gab es aber ein funkelnagelneues Theater, wenn auch eines, das nicht für die Ewigkeit gebaut ist. Das rote Teatro Nel Giardino, das jetzt die Uferpromenade so schrill dominiert, dass die alten Faschisten-Bauten daneben ganz klein und schäbig aussehen, war brechend voll, und es gibt Coupons, mit denen Normalsterbliche umsonst Karten in bestimmten Vorstellungen in allen Theatern bekommen können.

Auf dem Lido war wieder richtig was los in diesem Jahr, was aber nicht nur damit zu tun hat, dass der rote Teppich vor der Sala Grande jetzt nicht mehr hinter einer Baustelle liegt, sondern vor allem auch damit, dass auf diesem roten Teppich einiges geboten wurde: Ryan Gosling, Emma Stone, Alicia Vikander, Jake Gylenhaal, Mel Gibson, Michael Fassbender, Amy Adams, Dakota Fanning, Denzel Washington und Chris Pratt - es gibt kaum ein Festival, dass noch Hollywood-Großauftritte bis zum letzten Tag übrig hat.

Viel Aufmerksamkeit für die amerikanische Prominenz

Venedig hatte so viele Filme in den letzten Jahren, die bei den Oscars eine Rolle spielten, dass sie offensichtlich inzwischen mehr bekommen können, als einem lieb sein kann. 20 Wettbewerbsfilme, davon sieben amerikanische, plus "Brimstone", eine europäische Produktion - aber ein Western, mit Dakota Fanning und Guy Pearce in den Hauptrollen. Das ist ein bisschen viel, zumal es ja außer Konkurrenz, auch noch jede Menge Hollywood gab: Mel Gibson, James Franco, Philippe Falardeaus "The Bleeder" mit Naomi Watts und Liev Schreiber, Antoine Fuquas "The Magnificent Seven"... Viele von diesen Filmen waren großartig - so viel geballte amerikanische Prominenz bedeutet aber auch viel Aufmerksamkeit, die dann schon mal nicht dem Kino aus dem Rest der Welt zuteilwird.

Für die großen Festivals sind diese Entscheidungen eine Gratwanderung: Zu wenig Glamour, und kaum einer nimmt Lav Diaz noch zur Kenntnis; zu viel, und Lav Diaz hat es schwer, sich gegen das Paparazzi-Futter durchzusetzen. Man kann letztlich über einige der anderen Jury-Entscheidungen streiten, den Grand Prix für Tom Fords sehr oberflächlichen "Nocturnal Animals" beispielsweise, darüber, dass François Ozons "Frantz" über eine deutsch-französische Liebelei zwischen den Kriegen nur mit einem Preis für die beste Nachwuchs-Darstellerin (Paula Beer) ausgezeichnet wurde; oder ob Ana Lily Amirpours spekulativer Kannibalenthriller "Bad Batch" einen Spezialpreis verdient hat. Man kann aber nicht darüber streiten, dass die 73. Filmfestspiele von Venedig ein guter Jahrgang waren, der Wettbewerb eine Debatte über sehr unterschiedliche Weltanschauungen. Und das ist ja schon mal eine ganze Menge.

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