Gewalt in der Literatur:Ich wollte Böses tun

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Vom Ursprung des Verbrechens aus verlorener Ehre: Wie das 18. Jahrhundert, jenseits von Schuld und Sühne, die verletzte Seele des Mörders in den Blick nahm.

Gustav Seibt

Noch immer wissen wir so gut wie nichts über den Amokläufer von Winnenden. Die im Internet gefundene Selbsterklärung hat sich als Fälschung entpuppt. Die Eltern bekundeten in einem kurzen Brief ihr Unverständnis und ihre Ahnungslosigkeit. Ob der Mörder sich beim Psychiater vorgestellt hat, bleibt - mindestens was die Bedeutung eines solchen Schritts angeht - umstritten. Kriminalermittler oder Historiker müssten sagen: Wir haben keine Ahnung. Die Vorgeschichte der Tat liegt im Dunkeln.

Schlachtfeld Schule: Plakat einer "Törleß"-Verfilmung nach Robert Musil. (Foto: Foto: o.H.)

Der Historiker kann allerdings die Ebene wechseln und statt der unsicheren Fakten die Art, wie über das Ereignis geredet wird, betrachten. Hier gibt es zwei Linien, die sich nach jedem dieser schrecklichen Ereignisse zeigen. Die erste betrifft schlechte kulturelle und erzieherische Einflüsse; es ist die Killerspiel-These: Vereinsamte Jugendliche trainieren sich vor ihren PC die kalte Mordlust an. Da das allein nicht ausreicht - Hunderttausende schlagen ihre Zeit mit solchen Kampfspielen tot, ohne dass etwas passiert -, wird mit der Frage, warum solche Spiele in einzelnen Fällen auf fruchtbaren Boden fallen, das zweite, entscheidende Erklärungsmuster wirksam. Man könnte es mit einem alten Titel die Vorstellung vom "Verbrecher aus verlorener Ehre" nennen.

Fehlende Zuwendung, Demütigungen, Zurücksetzung, Verweigerung von Anerkennung führen in dieser Sicht zu einer Frustration, zu einem sich jahrelang ansammelnden Hass, der sich dann mit einem Schlag final entlädt; ein Hass, der zwischen außen und innen nicht mehr unterscheiden kann, der sich ebenso gegen die Umwelt wie das eigene Ich richtet. "Alle lachen mich aus, niemand erkennt mein Potential. Ihr werdet morgen von mir hören" - der Internetfund, gefälscht oder nicht, bietet die Light-Version dieser Gedankenfigur, die vom Talkshowpersonal jedes Mal ventiliert wird, wenn einer durchdreht und schießt.

"Der Verbrecher aus verlorener Ehre": Friedrich Schillers geniale Erzählung von 1786 markiert und ratifiziert einen Wandel beim Verständnis von Kapitalverbrechen, der historisch jung ist - er bahnte sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts an - und der unsere Sicht heute mehr denn je zu bestimmen scheint. Die Menschenkunde des 18. Jahrhunderts begann sich für das Innenleben selbst von Mördern zu interessieren, und zwar gerade, wenn der Mörder nicht aus naheliegenden materiellen Interessen, aus "niederen Beweggründen" also gehandelt hatte, sondern das Verbrechen um seiner selbst willen begangen hatte. Die Mordlust wurde selbst zum Gegenstand der Betrachtung.

Eskalation des Hasses

Das Verbrechen wird in dieser Betrachtung aus dem mechanischen Zusammenhang von Vergeltung und Strafe herausgenommen, noch mehr aus dem archaischen Kreislauf der Rache. Es geht um die Seele des Verbrechers, freilich noch nicht im pessimistischen Sinn einer Frage nach dem voraussetzungslosen, selbstzweckhaften Bösen, die später Dostojewskis Roman "Schuld und Sühne" stellt. Man müsse, so Schiller programmatisch am Beginn seiner Erzählung, vor den Handlungen "das Wollen" zu verstehen suchen: "Warum achtet man nicht auf die Beschaffenheit und Stellung der Dinge, welche einen solchen Menschen umgaben, bis der gesammelte Zunder in seinem Inwendigen Feuer fing?"

So lässt Schillers raffiniert literarisierte Geschichte - der Fall des Sonnenwirts Christian Wolf, der vom Wilddieb zum Rachemörder wird, könnte Schiller von einem seiner Lehrer zugetragen worden sein - den Täter selbst zu Wort kommen. Erzählt wird eine Eskalation, die sich von Armut und äußerlicher Benachteiligung - ausdrücklich ist von physischer Hässlichkeit die Rede -, erotischem Misserfolg, Hohn von Seiten eines Nebenbuhlers, ersten Vergehen, die übertrieben hart bestraft werden, bis zum unbeherrschbaren Hass entwickelt, schrittweise, immer unaufhaltsamer.

Nach einer ersten Gefängnisstrafe kennt der Ich-Erzähler nur noch Durst nach Rache: "Alle Menschen hatten mich beleidigt, denn alle waren besser und glücklicher als ich." "Ich wollte Böses tun." Mit gespenstischer Suggestivität stellt Schiller den Vorgang der Enthemmung bis zu dem Moment dar, in dem der gehasste Nebenbuhler vor dem Gewehr des Mörders liegt: "Eine tödliche Kälte fährt bei diesem Anblick durch meine Gebeine. Just das war der Mensch, den ich unter allen lebendigen Dingen am gräßlichsten hasste, und dieser Mensch war in die Gewalt meiner Kugel gegeben. In diesem Augenblick dünkte michs, als ob die ganze Welt in meinem Flintenschuss läge und der Hass meines ganzen Lebens in die einzige Fingerspitze sich zusammendrängte, womit ich den mördrischen Druck tun sollte."

Der Moment dauert nur ein paar Minuten, im Text jedoch mehr als eine halbe Seite, man darf also von Echtzeitliteratur sprechen: Ein langsamer Vorleser könnte erzählte Zeit und Erzählzeit synchronisieren. Näher kann Sprache an die Seele eines Mörders nicht herangehen: "Rache und Gewissen rangen hartnäckig und zweifelhaft, aber die Rache gewanns, und der Jäger lag tot am Boden."

Das Gute existiert

Wichtig ist: Es gibt zwei Parteien in der Seele des Mörders, Rache und Gewissen. Das Gute existiert. Das gibt dem Leser ein Moment der Anknüpfung, durch das ihm auch die andere Seite, Hass und Mordlust, zugänglich wird. Wer Schillers Geschichte liest, versteht, wie man so weit kommen kann, dass man auf ein Opfer zielt und abdrückt, das wehrlos vor einem liegt. Erst hinterher stellt sich, beim bekennenden Mörder wie bei seinen Lesern, mit dem kalten Entsetzen das Unverständnis ein: "Ich konnte nichts mehr von alledem hervorrufen, was mich vor einer Viertelstunde zum Rasen gebracht hatte. Ich begriff gar nicht, wie ich zu dieser Mordtat gekommen war."

Doch bei diesem Unverständnis bleibt es nicht. Der ganze Text arbeitet daran, es zu dementieren. Zwar wird der Mörder zum Berufsverbrecher und lebt mit einer Räuberbande, weil ihm der Weg zurück in die Gesellschaft verbaut ist. Doch damit erscheint das Grundthema nur auf höherer Ebene: die Frage nach psychologischen, gesellschaftlichen, juristischen, pädagogischen Voraussetzungen, dem, was das 18. Jahrhundert "Triebfedern" nennt.

Der Mörder weiß, dass er nicht resozialisierbar ist, darum macht er weiter, zwar nicht im Mord, aber beim Raub. Spät versucht er immerhin noch, einen Rest von "Ehre" zurückzugewinnen: Es ist Krieg (der Siebenjährige, erfahren wir), und der Mörder ist bereit, sich für den Landesherrn, der ihn zu Beginn seiner Karriere so überhart bestraft hatte, auf dem Schlachtfeld zu opfern. Doch es gibt keine Gnade, und der Ich-Erzähler kann rückblickend nur wiederholen: "Die Zeitrechnung meiner Verbrechen fängt mit dem Urteilsspruch an, der mich auf immer um meine Ehre brachte."

Eine eigentümliche Ambivalenz kennzeichnet diesen Text: Der Leser tut tiefe Blicke in das Innere des Mörders und wird an die Lust am Morden so nah herangeführt wie nie zuvor in der Literatur. Doch zugleich wird keineswegs ein absolut und von vornherein böser Mensch gezeigt, sondern eine verletzte Seele. Die verlorene Ehre ist ein Produkt falscher Justiz und der nachfolgenden sozialen Ächtung; schon die ersten Vergehen davor kommen aus sozialer Zurücksetzung und erotischem Misserfolg.

So wendet sich der Blick der Erzählung auf die umgebenden Systeme. Damit befindet Schiller sich im Einklang mit großen Teilen der Literatur, Pädagogik und Menschenkunde seiner Zeit. Neben der Justiz sind es Erziehung und Militär, die im späten 18. Jahrhundert auf den Prüfstand kommen. Schulen und Kasernen kommen in den Blick und erweisen sich als Brutstätten seelischer Verformungen bis zu Krankheit und Verbrechen.

So stellt der autobiographische Roman "Anton Reiser" von Karl Philipp Moritz die Zerstörung einer Kinderseele durch Gewissensdruck und barbarische Ausbeutung dar. Auch Werthers Selbstmord hat nicht nur mit Liebeskummer zu tun, sondern, vor allem in der ersten Fassung des Romans, mit sozialer Zurücksetzung. Der Maschinendrill der absolutistischen Militärmaschinen, vor allem Preußens, wird in entsetzten Erfahrungsberichten zum europäischen Skandal. Der Schweizer Uli Bräker zeigt, wie der Hass, den die Soldaten für ihren Beruf brauchen, erst in sie hineingeprügelt werden muss.

Schule als Schlachtfeld

All das wird vor allem im protestantischen oder calvinistischen Milieu verhandelt. Die fanatische Besserungswut des strengen Protestantismus erzeugt, bei Rousseau mit weltweiter Wirkung, ihr empfindsames Widerspiel. Das Böse ließe sich vermeiden, wenn Zuwendung, ja Liebe an die Stelle von Disziplin und Strafen träten. War nicht ein Heros des Jahrhunderts, der große Friedrich von Preußen, in seiner Jugend von seinem Vater so brutal bestraft worden, dass seine Eroberungslust sich wie lebenslange Rache ausnahm?

Vor allem die Schule wird seither vom Schatten der verlorenen Ehre begleitet. Wir reden heute vom Mobbing oder Bullying als neuen Erscheinungen, weil die Wörter jung sind. Aber wovon handeln die Schulgeschichten von Heinrich und Thomas Mann, von Hermann Hesse und Emil Strauß, wenn nicht von solchem Mobbing? Die Schule ist ein Schlachtfeld, also auch ein Feld der Ehre.

Diese Welt scheint schrecklich, aber sie ist, in empfindsamer Betrachtung, nicht verloren. Spätere Generationen entdeckten freilich die ganz voraussetzungslose Mordlust, den Mord aus Langeweile, aus reiner Kälte, ja aus dem Zufall, den Mord als act gratuit, daneben den schieren Sadismus, die Mordlust als Selbstzweck. Diese Entdeckung fand, von de Sade bis Camus, von Dostojewski bis Simenon in unprotestantischen Zusammenhängen statt. Aber das war ja vor allem Philosophie und Unterhaltung.

© SZ vom 19.03.2009/irup - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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