Gespräch mit Charles Lewinsky:"Scheiße, ich schalte um"

Dabeisein, wenn Karasek Reich-Ranicki erwürgt: Medienkritiker Charles Lewinsky über ein Fernseh-Angebot zwischen Volksverdummung und elitärem Gesabbel.

Hilmar Klute

Zürich, gleich hinterm Schauspielhaus - das ist hier die Wohngegend der Künstler, Schauspieler und anderer, die gerne in schönen, gleichwohl sündhaft teuren Vierteln wohnen. Leute, deren Soziotop die kleinen, ästhetisch feingetunten Stammcafés sind - wie das Berner da noi, in das der Schriftsteller Charles Lewinsky an diesem Herbstmorgen schlendert. Lewinsky hat die beiden schönsten und bösartigsten Romane über das Thema Medien geschrieben. Seine gute Laune hat jedenfalls unter der Mattscheibe nicht gelitten.

Hellmuth Karasek und Marcel Reich-Ranicki

Hellmuth Karasek und Marcel Reich-Ranicki im "Rummelfernseh"-Format "Das Literarische Quartett".

(Foto: Foto: ddp)

SZ: Herr Lewinsky, in Ihrem Fernsehroman "Mattscheibe" fallen Quiz-Kandidaten in Hundekot und werden mit Senf abgerieben. Früher haben wir das als Utopie gelesen, heute ist das von der Wirklichkeit überholt. Wo ist das Fernsehen schlimmer, in Deutschland oder in der Schweiz?

Charles Lewinsky: Wir Schweizer können kein allzu schlimmes Fernsehen haben, denn wir haben kaum private Sender. Um wirklich Scheiße sehen zu können, müssen Sie ein privates Fernsehen haben.

SZ: Unsere Kritiker sagen, dass auch das Öffentlich-Rechtliche unerträglich sei.

Lewinsky: Das ist zu einfach. Fernsehen ist ein viel zu komplexes Gebilde. Das fängt schon damit an, dass man die Öffentlich-Rechtlichen nicht mit den Privaten vergleichen kann. Die sind nicht im selben Gewerbe.

SZ: Was sind das für verschiedene Gewerbe?

Lewinsky: Die Privaten sind ein Betrieb zur Herstellung von Zuschauern, die man anschließend an die Werbung verkaufen kann. Die Öffentlich-Rechtlichen sind theoretisch ein Betrieb zur Herstellung von Sendungen. Das sind zwei verschiedene Aufgabengebiete.

SZ: Aber in der Fernsehpraxis ist das anders. Die Nachmittagsprogramme von ARD und ZDF sind von denen der Privaten nicht zu unterscheiden.

Lewinsky: Das ist das Problem: Dass die Öffentlich-Rechtlichen Spielregeln der Privaten übernehmen, die eigentlich für sie gar nicht gelten.

SZ: Haben sich die Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland zu viel von den Privaten abgeguckt?

Lewinsky: Ich bin fest davon überzeugt. Die Öffentlich-Rechtlichen lassen sich auf einen Wettbewerb ein, obwohl sie dazu keinen Anlass haben.

SZ: Dabei müssten ARD und ZDF nicht so auf Quoten gucken, weil sie doch hauptsächlich gebührenfinanziert sind.

Lewinsky: Aber eben nicht vollständig. Wenn ich Diktator wäre, was der Himmel verhüten möge, dürften die Öffentlich-Rechtlichen keine Werbung mehr machen. Das sind eh nur noch 15 Prozent des Einkommens. Haut denen die paar Prozent auf die Fernsehgebühren drauf, sagt: Dafür macht ihr keine Werbung und habt keinen Grund, auf Quoten zu schielen. Ihr braucht keine Dailys mehr zu machen und könnt in der Zeit Vernünftiges senden, auch wenn es dann weniger Leute gucken.

SZ: Also alles komplett umkrempeln?

Lewinsky: Man muss bei der Überlegung anders anfangen. Die Ansprüche, die man ans Fernsehen stellt, können schon aus praktischen Gründen nicht hoch sein.

SZ: Welche Gründe sind das?

Lewinsky: Die Menge des zu Produzierenden. Ich habe gerade gelesen, Reich-Ranicki hätte empfohlen, abends Shakespeare zu bringen. Wenn die ARD beschlösse, jeden Samstagabend statt Jubel, Trubel, Heiterkeit ein Shakespeare-Stück zu senden, gingen denen kurz nach der Sommerpause die Stücke aus.

SZ: Shakespeare war ein fleißiger Mann.

Lewinsky: Ja, und wie viel hat er in seinem Leben geschrieben? Da kommen Sie auf etwas mehr als ein Stück im Jahr: Damit füllen Sie kein Fernsehprogramm. Sie brauchen natürlich den Massenproduzenten. Wenn Goethe sein Weimarer Hoftheater vollhaben wollte, spielte er Kotzebue.

SZ: Der mittelmäßig, aber populär war.

Lewinsky: Der war nicht gut, aber er funktionierte beim Publikum: Diese mittlere Stufe ist wichtig.

SZ: Die Frau, die den ganzen Tag Schlager hört und sich abends auf den Musikantenstadl freut, würde Ihnen was husten, wenn sie Samstag um 20.15 Uhr Shakespeare gucken muss.

Lewinsky: Sie können natürlich nicht sagen: Wir bringen heute abend Karl Moik in Titus Andronicus. Aber man darf nicht vergessen: Shakespeare hat auch nicht für die Reich-Ranickis seiner Zeit geschrieben, sondern für ein breites Publikum.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Lewinsky einen Programmchef entlassen würde, der Fernsehen für Reich-Ranicki macht.

"Scheiße, ich schalte um"

SZ: Ist es unser Problem, dass die Intellektuellen hierzulande ein Verhältnis zum Fernsehen haben wie die Katze zum Wasser?

Charles Lewinsky

Charles Lewinsky hat selbst Unterhaltungssendungen für das Fernsehen konzipiert und verfasste mehrere medienkritische Bücher.

Lewinsky: Ich habe ja viele Jahre auch Unterhaltungssendungen gemacht.

SZ: Deshalb frage ich Sie.

Lewinsky: Ich wusste immer: Wenn ich in der Neuen Zürcher Zeitung eine gute Besprechung meiner Sendung hab', wird es ein Flop.

SZ: Sie waren nicht primitiv genug?

Lewinsky: So kann man das nicht sagen. Aber ein deutscher Fernsehintendant, der ein Programm machen würde, von dem Reich-Ranicki begeistert ist, gehört entlassen, weil er ja komplett am Publikum vorbeisendet. Fernsehen ist kein elitäres Medium. Aber es gibt zwischen totaler Volksverarschung und elitärem Gesabbel noch mehrere Zwischenstufen. Man kann nicht immer sagen: Entweder wir machen die totale Verblödung oder wir senden nur noch Shakespeare.

SZ: War Fernsehunterhaltung früher wirklich anspruchsvoller, als wir uns abends eine Quizsendung angesehen haben, in der Kandidaten eineinhalb Stunden lang aufzählten, was ihnen in den Kopf kam und wenn sie fertig waren, sprang ein kleiner Mann in die Luft und rief: Spitze?

Lewinsky: Und das Bild wurde sogar für ein paar Augenblicke eingefroren. Nein, was sich verändert hat, ist das Eindringen des Fernsehens ins Private. In Dalli Dalli, das Sie zitiert haben, kamen Privatleute als Kandidaten in einem Quiz vor, sonst eigentlich nicht, und wurden dort mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Heute sind die Verbrauchsware.

SZ: So wie die armen Verbechensopfer in Ihrem Roman "Talkshow", die nach den Kriterien "brauchbar" oder "ganz okay" kategorisiert werden.

Lewinsky: Im Schweizer Fernsehen gab es mal eine Sendung mit Leuten, die jemanden aus den Augen verloren hatten. Da war eine alte Dame, die dann in der Sendung jemanden wieder antraf. Die Kamera war auf sie gerichtet, und der Regisseur starrte selbstvergessen auf die Monitore und beschwor das Bild: "Jetzt wein' doch endlich, du blöde Kuh!" Sie sehen - reale Leute sind wirklich Verbrauchsware.

SZ: Ist Hochkultur im Fernsehen immer das, was es verspricht, wenn eine Kritikerin sagt, dieses Buch ist wunderbar, Sie werden es nicht mehr aus der Hand legen?

Lewinsky: Fernsehen ist ein oberflächliches Medium. Es gibt diesen englischen Spruch: Theater ist Leben, Kino ist Kunst, Fernsehen ist Möblierung. Die Schweiz hat mal den Versuch gemacht, zur besten Sendezeit sonntagabends ein hochkulturelles Magazin zu machen. Bei der ersten Sendung fiel nach drei Minuten das Wort onomatopoetisch.

SZ: Eher was für Germanisten.

Lewinsky: Und ich wusste, jetzt klicken im ganzen Land die Fernbedienungen. Wissen Sie, Reich-Ranickis Sendung war immer Rummelfernsehen, jeder Zuschauer hat gehofft, vielleicht bin ich dabei, wenn Karasek Reich-Ranicki erwürgt. Das war Catchen im Schlammbad.

SZ: RTL2 auf FAZ-Niveau?

Lewinsky: Natürlich - und dafür hat er auch einen Fernsehpreis verdient. Er hat das Medium ja richtig verstanden.

SZ: Woher kommt eigentlich der Ekel deutscher Intellektueller am Fernsehen?

Lewinsky: Wer damit beschäftigt ist, die "Suche nach der verlorenen Zeit" von morgens bis abends durchzulesen, hat natürlich keine Zeit, die "Supernanny" anzusehen, ist ja klar. Aber er hat auch keinen Grund, über die Supernanny zu schimpfen. Sie ist nicht für ihn bestimmt.

Lesen Sie auf Seite 3, warum Fernsehmacher für die Quote notfalls sogar Qualität senden würden.

"Scheiße, ich schalte um"

SZ: Warum gibt es Atze Schröder und "Deutschland sucht den Superstar"?

Lewinsky: Weil wir bei den Privaten die Situation aus dem alten Rom haben: Wenn einer gewählt werden will, geht er zum Leiter des Colosseums: Hier hast du 'ne größere Summe, mach 'ne tolle Show, was du machst, ist mir egal, ich guck mir den Scheiß eh nicht an. Aber den Leuten soll's gefallen, damit sie mich dann wählen. Und der Colosseums-Chef machte das, von dem er dachte, es müsste allen gefallen. Genau dieselbe Situation haben wir heute: Der Sender muss eine möglichst große Anzahl Leute in der gewünschten Zielgruppe liefern. Wie er das macht, ist den Werbern, die es bezahlen, völlig egal.

SZ: Immerhin laufen auf Privatsendern Formate wie Spiegel-TV.

Lewinsky: Es heißt ja auch nicht, dass jede Sendung bei den Privaten schlecht ist und jede bei den Öffentlich-Rechtlichen gut. Fernsehmacher sind so zynisch, die würden, wenn sie Quote dafür kriegen, sogar was Anständiges senden. Die machen nicht aus Überzeugung Trash. Apropos Spiegel-TV: Gucken sie sich an, was staatliche Eingriffe ausmachen! Die Privaten müssen ja Spiegel-TV senden.

SZ: Weil der Rundfunkstaatsvertrag Privatsendern mit zehn Prozent Marktanteil vorschreibt, einen Teil ihrer Sendezeit für "Fensterprogramme" bereitzustellen.

Lewinsky: Eine staatliche Vorgabe, die noch aus den Urzeiten des Privatfernsehens stammt, das ist eine Insel. Und Sie merken plötzlich, dass dieses Programm Zuschauer findet, sogar bei den Privaten. Selber hätten die das nie gemacht. Jetzt stellen sie fest, das ist nicht so schlecht, und das guckt sogar jemand. Diese Vorgabe ist im Grunde auch wieder ein Kulturbruch, weil so was ins Private gar nicht reingehört.

SZ: Was können wir von den Privaten überhaupt an Qualität verlangen?

Lewinsky: Man muss bei den Privaten immer von den Zahlen ausgehen. Sie können versuchen, durch heftig beworbene Qualität möglichst hohe Einschaltquoten zu erzielen. Dadurch steigen die Preise für die Spots, und das Geschäftsmodell geht auf. Oder Sie können das machen, was Sat1 im Moment macht, nämlich zu sagen: Wie viele Leute gucken, ist uns eigentlich egal, wir machen dafür die Sendungen so billig, dass es sich auch mit niedrigeren Einschaltquoten rechnet. Die holen einfach was aus der Mottenkiste.

SZ: Die Öffentlich-Rechtlichen dagegen . . .

Lewinsky:. . . haben ein Beamtenfernsehen. Die meisten sitzen halt einfach da bis zur Pensionierung. Das ist nicht die ideale Voraussetzung für Innovationen.

SZ: Man müsste als Unterhaltungschef auch mal Gefahr laufen, rauszufliegen, wenn man versagt?

Lewinsky: Ich glaube, es ist wie beim Theater. Wenn ein Schauspieler 20 Jahre an einem Stadttheater ist, mag das sozial sein - der Qualität ist damit nicht gedient.

SZ: Sie wollen amerikanische Verhältnisse in den Fernsehanstalten?

Lewinsky: In den USA empfiehlt es sich jedenfalls, immer einen kleinen Pappkarton bereitzuhalten, um jederzeit den Inhalt seines Schreibtischs einpacken zu können. Ich meine, das Grundproblem liegt darin, dass die Öffentlich-Rechtlichen nicht merken, dass sie in einem anderen Bereich tätig sind und dieser Aufgabe nur noch zu einem sehr geringen Maße gerecht werden. Die schlimmste aller Schlimmheiten heißt übrigens Degeto.

SZ: Die Einkaufsfirma der ARD.

Lewinsky: Der größte Kitschproduzent Europas. Diese Firma bestimmt mehr als alle anderen die Inhalte. Jodeln und Wolfgangsee. Es gibt diese Forschungen über Kindernahrung. Babynahrung ist in den letzten Jahren immer süßer geworden. Das hat zur Folge, dass Kinder, die mit solcher Nahrung aufgewachsen sind, ihr ganzes Leben lang einen höheren Anspruch an künstliche Süßstoffe haben.

SZ: Erzeugt Jodeln geistige Diabetes?

Lewinsky: Nicht unbedingt. Aber Geschmack ist auch etwas zu Übendes. Es gibt einen Unterschied zwischen "In aller Freundschaft" und "Dr. House". Wenn Sie jede Woche dreimal etwas in der Qualität von "In aller Freundschaft" angeschaut haben, sind Sie nicht mehr in der Lage, eine Sendung wie "Dr. House" zu schätzen. Auf Dauer verklebt Ihnen das deutsche Zeug die Gaumenspalte.

Im deutschen Fernsehprogramm werden die Sendungen auch wie Kraut und Rüben durcheinandergemischt.

Lewinsky: Natürlich können Sie einen Zuschauer nicht über Nacht umstellen. Das geht nicht. Die Privaten machen das ja auch ganz anders, die sagen: Heute beliefern wir den Zuschauer mit Arztserien, dafür machen wir morgen drei Actionserien hintereinander. Damit liefern wir der Werbeindustrie exakte Zuschauerpakete. Ein Elend, wir müssen wohl damit leben. Man kann den Stecker rausziehen, was auf Dauer aber auch nicht geht. Fernsehen ist immer noch ein wichtiges Medium - auch wenn die Ära zu Ende geht.

SZ: Das klingt ein bisschen apokalyptisch.

Lewinsky: Nein. Wir leben bald auch im Darwin-Jubiläumsjahr. Medien verhalten sich nach den Regeln der Evolution: die stärkeren verdrängen die schwächeren. Als das Fernsehen anfing, setzte man sich mit Erdnüssen hin und sah fern.

SZ: Heut isst keiner mehr Erdnüsse beim Fernsehen?

Lewinsky: Man setzt sich nicht mehr hin, um Fernsehen zu gucken. Fernsehen läuft nebenbei. Es ist nicht mehr das Medium, das die volle Aufmerksamkeit hat. Sie können alle fiktionalen Formen des Fernsehens auch im Nebenzimmer wahrnehmen. Und weil die Macher wissen, dass die Leute eh nicht mehr konzentriert gucken, wird alles in den Dialog gepackt. Sie brauchen nicht mehr hinzugucken.

SZ: Ich kann also so gut wie jede deutsche Fernsehsendung ebenso gut als Hörspiel konsumieren? Meinen Sie das im Ernst?

Lewinsky: Klar; wichtig für den Spotverkäufer ist nur, dass der Fernseher eingeschaltet ist.

Lesen Sie auf Seite 4, welchen Einfluss die Fernbedienung auf den Shitpoint hatte.

"Scheiße, ich schalte um"

SZ: Dann hat Enzensberger recht behalten: Fernsehen ist ein Nullmedium?

Lewinsky: Es ist zumindest nicht mehr das aktuellste Informationsmedium. Wenn ich mir die Debatte zwischen Obama und McCain ansehen will, warte ich nicht mehr, bis die im Fernsehen kommt, dann gehe ich im Internet auf die Seite der New York Times und klicke mich dort von Debattenthema zu Debattenthema, das ist viel aktueller. Auch deshalb hat Fernsehen an Bedeutung verloren, weil das Internet einfach innovativer ist. Ich sag mal was Ketzerisches . . .

SZ: Unbedingt.

Lewinsky: Die "Schwarzwaldklinik" war ein innovatives Format.

SZ: Die erste Krankenhaus-Serie im deutschen Fernsehen.

Lewinsky: Sie hat was eingeführt, das es nicht gab. Heute gibt es nicht so viele Krankheiten, wie es Ärzteserien gibt. Deshalb hatte das damals eine ungeheure Wirkung: Der Erste, der das macht, erzielt Straßenfegerwirkung. Das ist, wie wenn Sie Liebe auf Triebe reimen. Der Erste, der den Reim erfunden hat, war ein Genie.

SZ: Sie selbst haben zwar nicht die Sitcom erfunden, aber die erste erfolgreiche Serie dieser Art im Schweizer Fernsehen gemacht. Die hieß: Fascht e Familie.

Lewinsky: Die Kulisse war in etwa so groß wie dieses Café hier, und die Texte mussten exakt danach geschrieben werden, wie viel Platz auf der Bühne war. Jede szenische Form erklärt sich immer damit, wie viel Geld zur Verfügung steht. Im Barocktheater gab es auf der Bühne eine Zentralperspektive, weil die gesamte Finanzierung vom König kam, also musste man nur von seinem Platz aus gut sehen können. Oder Shakespeare: Sehen Sie sich die Stücke an, die er für das Globe Theater geschrieben hat. Alle mit demselben Aufbau. Literaturprofessoren würgen mich jetzt.

SZ: Wir sind hier zu zweit.

Lewinsky: Es fängt mit Kasperletheater an, Gespenster und Hexen . . .

SZ: Macbeth zum Beispiel . . .

Lewinsky:. . . und am Schluss bringen sich alle gegenseitig um. Klug geredet wird immer erst vom zweiten Akt an.

SZ: Also würden Sie sagen, Shakespeare passt besser zu RTL als in die ARD ?

Lewinsky: Nein, das hatte ganz praktische Gründe, nämlich den Verkehrsstau auf der Themse: Die vornehmen Leute waren am Anfang noch nicht im Theater. Da waren nur die einfachen Leute, die vorher gekommen waren. Die Adeligen hatten ihre Sitzplätze, die kamen später. Erst wenn die da waren, fingen die Leute auf der Bühne an, große Monologe zu halten.

SZ: Im Fernsehen müsste man mit Atze Schröder anfangen, und wenn der Stau nachgelassen hat, kommt Bruno Ganz?

Lewinsky: Eine der größten Veränderungen im dramaturgischen Aufbau von Fernsehspielen entstand durch die Fernbedienung. Der sogenannte Shitpoint rückte nach vorne.

SZ: Shitpoint?

Lewinsky: Das ist der Punkt, an dem der Zuschauer sagt: "Scheiße; mir gefällt's nicht, ich schalte um." Als man noch aufstehen musste, um zum Fernseher zu gehen, lag der Shitpoint später als jetzt, da man nur die Fernbedienung drücken muss: Also musste der Höhepunkt, oder was immer Zuschauer bindet, früher kommen.

SZ: Stellen Sie sich vor, ein Programmchef möchte von Ihnen eine Sitcom haben, die Reich-Ranicki ebenso gefällt wie der Musikantenstadl-Seherin.

Lewinsky: Unmöglich. Wenn Sie sich mit diesem Anspruch hinsetzen und was ausdenken wollen - haben Sie hinterher Schwielen am Gehirn aber keine Sendung.

Charles Lewinsky, 62, ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Schweiz. Sein 2006 erschienener Familienroman "Melnitz" war ein Bestseller, in diesem Herbst erschien der Novellenband "Zehnundeine Nacht". Vor seiner literarischen Karriere war Lewinsky als Fernsehredakteur Schöpfer der Sitcoms "Fascht e Familie" und "Fertig lustig" im Schweizer Fernsehen. Lewinskys Ruf als scharfer Medienkritiker begründeten seine beiden Romane "Mattscheibe" und "Talkshow" - damals waren sie groteske Utopien einer verwahrlosten Senderwelt, heute liest man sie eher als Bestandsaufnahmen. Lewinsky, der auch Schlagertexte, Unterhaltungsshows und das Drehbuch für Oliver Hirschbiegels Kinofilm "Ein ganz gewöhnlicher Jude" (2006) geschrieben hat, lebt in Frankreich und Zürich.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: