Gesellschaft:Worüber man nicht spricht

Übersehen, verschweigen unwidersprochen akzeptieren: Die Soziologin Sina Arnold hat eine starke Studie zur US-Linken und "ihrem" Antisemitismus vorgelegt.

Von Isabell Trommer

Im August 1991 ereignete sich im Stadtteil Crown Heights in Brooklyn ein Unfall: Der Chauffeur eines chassidischen Rabbis fuhr an einer Kreuzung zwei schwarze Kinder an. Der siebenjährige Junge kam ums Leben, seine Cousine wurde schwer verletzt. In den folgenden Tagen fanden heftige Auseinandersetzungen und Straßenkämpfe statt. Ein jüdischer Australier erlag seinen Verletzungen, nachdem er von Schwarzen angegriffen worden war. Der Historiker Edward Shapiro bezeichnete die Crown Heights Riots später als den "einzigen antisemitischen Aufstand" in den Vereinigten Staaten. Zwar war das Verhältnis zwischen der schwarzen und der jüdischen Community seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre nicht mehr so kooperativ wie zuvor, doch hat es weder davor noch danach ein vergleichbares Ereignis gegeben.

In den USA war Antisemitismus nie Staatspolitik, und seitdem der Staat Israel existiert, wird er von US-Regierungen unterstützt. Denkt man über Antisemitismus nach, fallen einem zunächst andere Länder ein. Um diesen blinden Fleck auszuleuchten, hat sich die Berliner Ethnologin Sina Arnold die Antisemitismusdiskurse in den USA vorgenommen. Sie konzentriert sich auf die amerikanische Linke, in der Antisemitismus gerade seit den 2000er-Jahren vermehrt eine Rolle spiele.

Sina Arnold wirft zunächst einen Blick in die amerikanische Geschichte: Im 17. Jahrhundert erfuhren Jüdinnen und Juden Benachteiligung als Nicht-Protestanten. Während des Bürgerkrieges war das Bild der "jüdischen Wurzellosigkeit" verbreitet und damit der Verdacht, Juden mangele es an Loyalität gegenüber den USA. Osteuropäische Juden, die bis 1914 einreisten, waren einer "diskriminatorischen Grundstimmung" ausgesetzt. Mittlerweile war der Antisemitismus allerdings nicht mehr religiös motiviert, vielmehr war nun von "jüdischen Kapitalisten" und "geldgierigen Bankiers" die Rede. Auch nach dem Ersten Weltkrieg, der den Nationalismus verstärkt hatte, und später nach dem Holocaust stiegen antisemitische Einstellungen an, etwa weil man den Juden vorwarf, sie hätten die USA in den Krieg hineingezogen. Antikatholizismus und Rassismus gegen Schwarze waren historisch jedoch die dominanteren Phänomene.

Gesellschaft: Sina Arnold: Das unsichtbare Vorurteil. Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11. Hamburger Edition, Hamburg 2016. 488 Seiten, 38 Euro. E-Book 29,99 Euro.

Sina Arnold: Das unsichtbare Vorurteil. Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11. Hamburger Edition, Hamburg 2016. 488 Seiten, 38 Euro. E-Book 29,99 Euro.

Nun ist seit Beginn des 21. Jahrhunderts immer häufiger von einem "neuen Antisemitismus" die Rede, auch in den USA. Antisemitische Straftaten und antiisraelische Einstellungen haben zugenommen. Die Diagnose eines "neuen Antisemitismus" tauchte schon früher auf, hauptsächlich in Europa, etwa nach dem Sechstagekrieg. Israel wurde seither, gerade von vielen Linken, deutlich kritischer gesehen, nämlich als "imperialistischer" Akteur. Auch der "neue Antisemitismus" sei natürlich nicht völlig neu, so Arnold, doch im Unterschied zu früheren Bewegungen gehe es nur noch selten um eine "rassische" Überlegenheit. In erster Linie drücke er sich in antizionistischen Aussagen aus. Arnold befasst sich in ihrer Studie dabei zum einen mit Antisemitismus und dem Reden über Antisemitismus in der amerikanischen Linken seit dem 11. September 2001. Zum anderen hat sie allgemeine Veränderungen in linken sozialen Bewegungen in den 2000er-Jahren im Blick - ein Jahrzehnt, das für die USA von einer politischen und einer ökonomischen Krise gerahmt war.

Die politische Krise, die mit dem 11. September 2001 ihren Ausgang nahm, habe nicht nur die USA und ihre Außenpolitik beeinflusst, sondern auch die Linke. Verschwörungstheorien, der israelische Geheimdienst sei für die Anschläge verantwortlich, trieben zwar vor allem die Rechte um, aber nicht nur. Die Kriege der Bush-Regierung veränderten auch die politische Agenda der Linken: Die Kritik am Neoliberalismus oder an der Globalisierung traten in den Hintergrund, während antiimperialistische Einstellungen und Antikriegsproteste bestimmend wurden. Im Zuge der Finanzkrise 2008 und von Occupy Wall Street bekamen antisemitische Positionen weiter Aufwind. In Krisenzeiten sind Verschwörungstheorien und Antisemitismus bekanntlich populär, während ökonomischer Krisen erst recht. Schließlich führt Arnold verschiedene Entwicklungen in linken Nichtregierungsorganisationen an: den Umstand etwa, dass Zionismus immer häufiger mit Rassismus gleichgesetzt werde; aber auch das Erstarken von Boykott-Kampagnen gegen Israel seit dem Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000.

Sina Arnold hat Veranstaltungen und Demonstrationen besucht, linke Zeitschriften, Zeitungen und Flugblätter ausgewertet, Interviews mit Aktivistinnen und Aktivisten geführt, unter anderem aus der Antikriegsbewegung, aus der propalästinensischen Bewegung und von Occupy Wall Street. Sie stellt dar, wie über Antisemitismus gesprochen wird und welche Topoi bestimmend sind. Während die schwarze und die jüdische Community lange Zeit Verbündete im Kampf um gesellschaftliche Gleichberechtigung gewesen seien, herrsche in der Vorstellungswelt vieler Linker mittlerweile ein Konkurrenzverhältnis zwischen Antisemitismus und Rassismus. "In der Linken kann man nicht über Antisemitismus reden, sonst giltst du als Rassist, weil du gegen die Palästinenser bist", so ein interviewter Anarchist. Verbreitet ist die Vorstellung, Jüdinnen und Juden seien dank ihrer ökonomischen Erfolge privilegiert. Ansonsten spielt der Nahostkonflikt eine zentrale Rolle. Auch wenn das Existenzrecht Israels nicht infrage gestellt werde, gelte der Staat zuverlässig als der "Aggressor". Insgesamt ist das diskursive Spektrum groß: Von Sprüchen auf Demonstrationen wie "Jeder Israeli, der am Genozid in Gaza beteiligt ist, ist ein Hitler" bis hin zu besorgten Aussagen wie "Ich denke, Antisemitismus ist ein großes Problem in den USA".

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Am Ende kann Arnold zeigen, dass manifeste antisemitische Stereotype in der amerikanischen Linken die Ausnahme sind. Antisemitismus sei allerdings ein unsichtbares Vorurteil, und zwar in zweifacher Hinsicht: Er artikuliere sich erstens über Andeutungen, und zweitens handele es sich um "ein Vorurteil, über das nicht gesprochen werden darf". Die Autorin bezeichnet das als eine Trivialisierung, denn Antisemitismus werde "generell übersehen, unwidersprochen akzeptiert oder verharmlost". Diese Beobachtung gilt nicht nur für die Vereinigten Staaten und nicht nur für die Linke - das macht dieses Buch zeitdiagnostisch wichtig. Und das trifft auch auf andere Beobachtungen Arnolds zu: Wenn ein Antisemitismusvorwurf im Raum steht, setze oft die stets gleiche Dynamik ein: Erst werde reflexartig abgewehrt, danach heiße es, der Vorwurf sei strategisch gewesen. Am Ende reden alle über den Vorwurf und den "Missbrauch" von Antisemitismus, nicht jedoch über die Sache an sich.

Die amerikanische Linke ist eine unübersichtliche Szene. Die große Leistung der Autorin liegt auch darin, die Bewegungen und Diskurse zu systematisieren; etwa wenn sie die Unterschiede zwischen der liberalen, der sozialistischen und der libertären Linken herausarbeitet. Tatsächlich ist ihre Studie viel breiter angelegt, als ihr Titel vermuten lässt. Sie sollte gerade in einer Zeit gelesen werden, in der sich der Blick zunehmend auf einen ganz anderen Bereich des politischen Spektrums verengt. Sieht es doch so aus, als werde die US-Linke in den nächsten Jahren dringend gebraucht.

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