Gesellschaft und Individuum:Nach dem Muster des Mietkaufs

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Die Welt sei nicht besser geworden, sagte der polnisch-britische Denker Zygmunt Bauman (1925-1917) am Ende seines Lebens.

(Foto: imago/Eastnews)

Wie macht man die Welt frisch? Der große Soziologe Zygmunt Bauman blickt im Gespräch zurück auf die misslungene Moderne und unsere misslungene Postmoderne.

Von Andreas Zielcke

Wenn ich in Kürze sterben werde", erklärte Zygmunt Bauman seinem Gegenüber, dem Schweizer Essayisten und Reporter Peter Haffner, "weil ich ein sehr alter Mann bin, werde ich unerfüllt und unglücklich sterben. Weil es eine Frage gibt, mit der ich gerungen habe, um eine überzeugende Antwort zu finden, und mir ist es nicht gelungen. Ich weiß, dass ich die Antwort nicht mehr finden werde, ich habe keine Zeit mehr. Die Frage ist sehr simpel: Wie macht man die Welt frisch? Diese Frage stammt aus der Bibel, dem Neuen Testament. 'Seht, ich mache alles neu', wird Jesus in der Offenbarung des Johannes zitiert. Es ist die Frage, wie man Worte in Taten verwandelt."

Das sind deprimierende Sätze eines der großen Soziologen unserer Zeit. Sie sind nicht deswegen deprimierend, weil sie in dem Gespräch fielen, das Bauman mit Haffner kurz vor seinem Tod geführt hat; Bauman starb letzten Januar im Alter von 91 Jahren. Die Sätze sind trostlos, weil er sein elementares Anliegen als intellektuell aktiver Zeitgenosse gescheitert sah - das Anliegen, mit aufklärerischen Worten auf die Welt einzuwirken. Bauman zitierte Marx' elfte Feuerbachthese nicht, aber auch er wollte die Welt nicht nur interpretieren, er wollte sie "verbessern". Am Ende seines Lebens war, wie er in dem Gespräch denkbar trocken konstatierte, "die Welt nicht besser."

Resignation zieht sich wie ein roter Faden durch Baumans Werk

Nach Koketterie war ihm trotz der außergewöhnlichen Bedeutung, die er erlangt hat, gewiss nicht zumute. Seit Jahrzehnten zieht sich Resignation durch sein Werk wie ein roter Faden. Immerhin kleidet er seine entmutigte Grundstimmung in ein famoses Bonmot, auch wenn es nicht von ihm stammt: Was unterscheidet, fragt er rhetorisch, den Pessimisten vom Optimisten? Der Pessimist befürchtet, dass der Optimist recht hat (denn der glaubt, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben). Die missratene Gesellschaft ist schon das Optimum dessen, was wir hinkriegen.

Was an ihr ist derart misslungen? Summarische Gespräche mit Geistesgrößen haben den Vorteil, dass sie die über die Jahrzehnte gewonnenen Erkenntnisse noch einmal auf ihre Essenz reduzieren und wie zum Mitnehmen zurechtstutzen und fasslich machen. Aber darin liegt natürlich zugleich der Nachteil, dass komplexe Theorien oft zu schlichten Merksätzen gerinnen, die definitiv und abschließend klingen, statt Gedankenwelten zu öffnen. Ganz ist auch Baumans Dialog mit Haffner nicht der Gefahr entkommen, selbstreferenziell um Kernaussagen zu kreisen, die man von ihm auch in dieser kompakten Form schon mehrfach gehört hat. Dennoch geht es unter die Haut, wie sich hier Melancholie, Alterssensibilität und eine allerletzte Suche nach Erklärungen die Waage halten.

Bauman, als polnischer Jude gezeichnet von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, lag nie daran zu glänzen. Seine Kunst ist es, wie man überzeugend Gedanken entwickelt und gleichzeitig einräumt, die geistigen Waffen strecken zu müssen - eine Kunst, die das Gespräch beklemmend prägt.

Von Grund auf misslungen sind in Baumans Augen sowohl die Moderne als auch die Postmoderne, die er die flüssige Moderne nennt. Die Moderne charakterisiert, dass die Menschheit Gott abgelöst und ihr Geschick selbst in die Hand genommen hat. Das Symbol der historischen Zäsur sieht Bauman im Erdbeben von Lissabon, das in der Neuzeit noch einmal das biblische Buch Hiob aufgeführt habe. So wie das Erdbeben Gläubige und Ungläubige, Schuldige und Unschuldige gleichermaßen vernichtete, hat es die Blindheit und Indifferenz Gottes bewiesen. Den Menschen blieb nur, sich einer anderen, aber sehenden Instanz anzuvertrauen, der eigenen Vernunft.

Allerdings gaben sie dabei den "Hunger nach dem Absoluten, nach Reinheit" nicht auf, sondern übertrugen ihn auf ihre jetzt selbst entworfene Gesellschaftsordnung. In dem Drang zum Gesetzmäßigen, zum Perfekten bekämpften sie alles, was als uneindeutig, fremd oder außenseiterhaft aus dem Einheitsrahmen fiel und der vollkommenen Gestaltung im Wege stand.

Im Blickwinkel dieses regel- und homogenitätswütigen Moderne, so betont es Bauman auch Haffner gegenüber, seien die Juden besonders ins Visier geraten als "die Avantgarde der Ambivalenz". Sein Schluss, dass ihre systematische Ausmerzung (samt anderen Außenseitern) durch den Holocaust kein Rückfall in die Barbarei, keinen Bruch der modernen Zivilisation darstellte, sondern im Gegenteil ihre schlüssige Folge, brachte ihm heftige Kritik ein (kurz gesagt: er schütte das rationale Kind mit dem irrationalen Bade aus). Auch in dem Gespräch aber hielt er an seiner Variante der "Dialektik der Aufklärung" fest. Dabei stellt er das stalinistische Projekt, was die Beseitigung vorgeblich herrschaftsresistenter Elemente betrifft, dem nationalsozialistischen zur Seite.

Unbeherrschbare Strukturen und Machtströme wachsen den Individuen über den Kopf

Mit der Verflüssigung der Moderne, der Postmoderne, habe sich dann der Wind gedreht und nun doch dem Ambivalenten, dem Vieldeutigen, dem Nonkonformen zum Durchbruch verholfen. Nicht mehr das allgemeine Gesetz, sondern Vielseitigkeit und Wandel dirigieren jetzt Staat und Gesellschaft, wobei seither typischerweise von Zivilgesellschaft die Rede ist. Bemerkenswert ist, wie Bauman diesen Entwicklungssprung als bedeutenden Fortschritt beschrieb, sich aber nach und nach immer kritischer dessen Kehrseite zuwandte.

Die Verflüssigung durchtränkt alle gesellschaftlichen Bereiche. Macht entzieht sich dem Staat und unterwandert, digital oder nicht, sämtliche Kommunikationsstrukturen; hier nähert er sich Michel Foucault an. Liebe und Gefühle werden verflüssigt: "Man ist freier im Zusammenleben, leidet jedoch darunter, dass der Partner das auch ist. Es führt zu einem Leben, in dem Beziehungen nach dem Muster des Mietkaufs geformt werden." Nicht zufällig bietet sich selbst dafür ein Begriff des Marktes an, denn der Markt ist das Epizentrum der Verflüssigung, sei es der Globalisierung, sei es der Arbeitswelt, sei es der Eigentumsverhältnisse, sei es die Privatisierung des Politischen. Und vor allem ist auch die Individualisierung nur noch als Prozess und fließende Identität zu begreifen. Aber damit, sagt Bauman, entstehen unbeherrschbare Strukturen und Machtströme, die jedem Individuum über den Kopf wachsen, obwohl ihm in dem permanenten Wandel die zentrale Rolle und Selbstverantwortung zugeschrieben ist.

All das hat Bauman nicht als Erster erkannt, abgesehen davon, dass er kein Experte der politischen Ökonomie ist - eine auffällige Lücke, die er mit vielen Soziologen teilt, obwohl sie präziser als die meisten Ökonomen die dominante Rolle des Marktes für alles sehen, was heutige Gesellschaften ausmacht. So wie sie ist auch Bauman Laie der Wirtschaftstheorie, aber Spezialist für die sozialen Kosten der ökonomischen Kraftentfaltung. Den Kapitalismus betrachtet er als Lebensform, nicht als Mechanismus der Wohlstandsproduktion. Deshalb ist die Volatilität, die er erfasst, nicht die der Wertpapiere und ihrer Derivate, sondern die Volatilität der Arbeitsplätze, der sozialen Sicherung, der Solidarität. "Jeder Mitarbeiter einer Fabrikbelegschaft ist ein potentieller Konkurrent des anderen, jeder beargwöhnt jeden und hofft, wenn die nächste Runde der Rationalisierung, des Downsizing und Outsourcing kommt, dass es nicht ihn, sondern den anderen trifft. Dass nicht er, sondern der andere überflüssig ist."

Im Kontext der flüssigen Moderne hat diese Art von "Überfluss" seine makabre Bedeutung. Bauman scheut sich nicht, provokativ vom "menschlichen Müll" zu sprechen, den das moderne Wirtschaften produziert. Vielleicht ist es der größte Gewinn des vermächtnishaften Gesprächsbuches, dass sich durch die freimütigen Rückblicke Baumans auf sein Leben - bei dem Haffner auch nicht Fragen nach der zweifelhaften Funktion Baumans beim polnischen Geheimdienst nach Kriegsende ausspart - ein extrem wechselvoller biografischer Horizont aufspannt, vor dessen Hintergrund sich jeder Zweifel über den Sinngehalt dieses Begriffs von "Müll" verbietet.

Zygmunt Bauman: Das Vertraute unvertraut machen - Ein Gespräch mit Peter Haffner. Hoffmann und Campe, Hamburg 2017. 187 Seiten, 20 Euro.

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