Geschichte:Die Welt ohne uns

DDR-Grenzübergang, 1990

1943 unkte Clauß von der "Kulturöde des Bolschewismus und Amerikanismus". Autobahnbrücke an der ehemaligen Zonengrenze, 1990.

(Foto: Regina Schmeken)

Max Walter Clauß, europhiler Salonlöwe, Frankreichliebhaber und Goebbels-Mitarbeiter, prägte den Begriff vom "Eisernen Vorhang".

Von Willi Winkler

Am 22. Juli 1945 - der Krieg ist endlich vorbei, die Jahre in beständiger Angst vor der Deportation nach Auschwitz sind überstanden - blättert der Dresdner Romanist Victor Klemperer in einem Buch und wird sofort von "entschiedenstem Widerwillen" erfasst. Das Buch stammt von einem anderen Kenner der französischen Kultur, der die Hitler-Jahre aber nicht im "Judenhaus" verbringen musste, sondern sich zum schmiegsamsten Kollaborateur fortbildete. In seinem Werk "Tatsache Europa", im Frühjahr 1943 im großdeutschen Verlag Volk und Reich erschienen, kreiert der Autor Max Clauß ein "neues Europa, das marschiert".

Doch was von Clauß heute bleibt, ist etwas ganz anderes: das Wort vom "Eisernen Vorhang" nämlich, das er mitprägte, und das sich kein anderer als sein zeitweiliger Arbeitgeber Joseph Goebbels umgehend aneignete.

Clauß' Feind ist England, das sich nicht erobern lässt, ist die "aufmarschierte Vernichtungsmacht der Steppe" (er meint die 1941 überfallene Sowjetunion) und der angesagte "Aufmarsch der Anglo-Amerikaner". Da wird von "Unbedingtheit", von "Enderfolg" gedröhnt und vom "Zusammenbruch aller menschlichen Werte", der "am Ende des vierten Kriegswinters" aber keineswegs in Deutschland stattgefunden hat, sondern dem Land droht, falls die Amerikaner Deutschland "kolonisieren" würden. "Denn erst die Welt ohne uns wäre die ideale Welt für Bolschewismus und Amerikanismus, eine Welt der geschichtslosen, barbarischen, gleichmacherischen Kulturöde, die Welt ohne das europäische Gesicht. Diesem wirklichen Untergang des Abendlandes im 20. Jahrhundert steht die kämpferische Tatsache Europa entgegen."

Eine Welt "ohne uns", ohne europäische Kultur, oder das, was dieser mustergültige Europäer, darunter verstand, durfte es nicht geben.

Max Walter Clauß kam 1901 in Offenburg als Sohn eines badischen Textilunternehmers und einer elsässischen Mutter zur Welt und konnte noch, auf den Schultern seines Großvaters sitzend, den letzten Kaiser "in der Spielzeuguniform seiner roten Husaren" sehen. In Heidelberg studiert er bei Alfred Weber und Ernst Robert Curtius, lernt in Lausanne Carl Jacob Burckhardt kennen und parliert in Paris mit André Malraux und Paul Valéry.

In der Neuen Rundschau erscheinen 1926 die ersten Proben von Valérys "Monsieur Teste" in seiner Übersetzung, die noch für die jüngste Ausgabe bei Suhrkamp "vergleichend herangezogen" wird. Weber empfiehlt ihn an den österreichischen Aristokraten Karl Anton Prinz Rohan, der mit Hofmannsthal von einer "schöpferischen Restauration" Europas träumt. Clauß wird Redakteur der Europäischen Revue, die "die geistige Einheit Europas bewusst machen" will und die der I.G.-Farben-Manager Georg von Schnitzler finanziert.

Industriegeld hilft auch, Kongresse des elitären katholisch-kulturkonservativen Clubs zu veranstalten. Der erste findet im faschistischen Mailand statt, allerdings folgt Mussolini der Einladung dann doch nicht. Man trifft sich in Krakau und in Barcelona und natürlich in Wien und beklagt, gerne auf Französisch, die "Vulgarisierung" der Kultur in der modernen Welt, oder verhandelt "Die Rolle des Geistesmenschen im Aufbau Europas".

Auf dem Gemälde "Gesellschaft Paris" hat Max Beckmann 1931 diese sich selber feiernden europäischen Geistesmenschen dargestellt, darunter das mäzenatische Ehepaar Schnitzler, der deutsche Botschafter Hoesch, der Bankier Albert Hahn, der französische Minister Anatole de Monzie, der Modeschöpfer Paul Poiret und in der Mitte Prinz Rohan, in rilkescher Schwermut träumend, die Revolution von 1789 ließe sich ungeschehen machen.

Clauß ist zwar nur der Redakteur, aber ein Weltmann, der mit Thomas Mann spricht, der T. S. Eliot, der ihn als "mon cher ami et confrère" grüßt, in London besucht, und in Berlin von Carl Schmitt zum Frühstück empfangen wird. Zuletzt geht er in die Politik, wird Mitglied von Theodor Heuss' Deutscher Staatspartei und kandidiert 1933 bei den Reichstagswahlen.

Er militärschriftstellert, hitlert, jüngert. Aber alles gegen seine "innere Überzeugung"

Europa wird dann, wie bekannt, ein wenig anders restauriert, als sich das Hofmannsthal und sein Kulturbundesbruder Burckhardt träumten. Clauß begreift das schnell und macht Karriere, diesmal von Staats wegen alimentiert: Chefredakteur einer Nachrichtenagentur, diplomatischer Korrespondent des Berliner Tageblatts, Propagandaschreiber und, wenn es die Nachrichtenlage erfordert, Antisemit.

"Gegen meine innere Überzeugung" habe er das getan, behauptet er in seinen Memoiren, aber Goebbels lobt ihn nicht ohne Grund. "1942 steht der zum ersten Mal in seiner Geschichte geschlossen organisierte Kontinent Europa in den Stürmen des äußeren Weltkrieges", den "der Präsident der Vereinigten Staaten auf dem Gewissen hat." Der Ästhet Clauß militärschriftstellert von "Feuertaufe", jüngert vom "soldatischen Geschlecht", hitlert vom "Erwachen der asiatischen Völker", er bleibt aber im Grunde seines Herzens Europäer.

Sein Chef Joseph Goebbels ist es auch. Vor dem sowjetischen Imperium, so dröhnt er im Februar 1945 in seinem Renommierblatt Das Reich, würde ein "Eiserner Vorhang" niedergehen, "hinter dem dann die Massenabschlachtung der Völker, wahrscheinlich noch unter dem Beifall der Londoner und New Yorker Judenpresse, begänne".

Goebbels hatte sich das Bild von seinem Lohnschreiber Clauß geborgt, der von Portugal aus sein Europa der noblen Kongresse und der mürben Essays untergehen sah. "Ein eiserner Vorhang vollendeter bolschewistischer Tatsachen ist, trotz Churchills Bittgang nach Moskau vor der Roosevelt-Wahl, vor ganz Südosteuropa niedergegangen", hatte er eine Woche vor seinem Chef auf Seite eins im Reich geseufzt. "Er senkt sich auch trotz der Dreierkonferenz unaufhaltsam hinter der Eisenhowerfront über Westeuropa."

Rainer Blasius hat den Vorhangzieher, der nur mit "cl Lissabon" zeichnete, in der Frankfurter Allgemeinen identifizieren können. Clauß' unveröffentlichten Memoiren, die im Münchner Institut für Zeitgeschichte liegen, ist ein fotokopierter Brief von Carl Jacob Burckhardt von 1971 beigeheftet. "Politisch so begabte, erfahrene und mit dem nötigen Takt und savoir vivre ausgestattete Persönlichkeiten wie Sie, mussten die harte und gefährliche Aufgabe übernehmen, im Lande zu bleiben."

Burckhardt geht noch weiter: Clauß sei 1945 "aus der Hölle, als ein Wissender und nicht wie die Emigranten, als in propagandistischen Scheinvorstellungen Verstrickter 'praeceptor Germaniae' zurückgekehrt". Daran ist nichts wahr, denn Clauß wartete in seinem Portugal, dessen faschistische Diktatur er beispielsweise in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte zu verherrlichen verstand, mehr als ein Jahrzehnt, ehe er nach Deutschland zurückkehrte. Davor veröffentlichte er noch "Der Weg nach Jalta" (1952), das wiederum sein stahlhartes Europabild offenbarte. Für Clauß war nicht nur Roosevelt an allem schuld, sondern Roosevelt und Hitler seien "wahre Zwillinge des Hasses" gewesen.

Unter dem Kürzel -ri, dem gleichen, das sie als Beiträgerin für das Reich gebraucht hatte, lobte Margret Boveri 1952 in der FAZ das Buch ihres ehemaligen Kollegen, "der die Entwicklung über den Abgrund hinweg weiter verfolgen und unvoreingenommen verzeichnen konnte".

So groß war der Abgrund nach der Hölle aber gar nicht. Clauß fand sogleich Arbeit als Lobbyist der deutschen Industrie- und Handelskammer; später vertrat er die Hannover Messe im Ausland. Aus der "Tatsache Europa" wurde ein zivilistischer "Treffpunkt Zukunft" (1984), aber auch in dieser Geschichte der Hannover-Messe konnte es sich Clauß nicht verkneifen, über "Labour-England" und die von Jean Monnet praktizierte "Planwirtschaft" zu lamentieren.

Der Eiserne Vorhang, den Clauß und Goebbels 1945 quer durch Europa niedergehen sahen, hob sich erst 1989. Es brauchte dafür aber keine europäische Kultur, kein Paneuropa, schuld war der böse Finanzkapitalismus. Der Nachschub für den Sicherheitszaun SZ-100, der die Grenze zwischen Ungarn und Österreich absperren sollte, stockte, so dass Ministerpräsident Miklós Németh 1988 den dafür vorgesehenen Posten von 55 Millionen Forint im Etat strich.

Eine vorsichtige Anfrage in Ostberlin, ob man sich an der Instandhaltung der Grenzbefestigung beteiligen wolle, wurde von der nicht weniger klammen DDR-Regierung abschlägig beschieden. Die Grenze war also längst auf, als Gyula Horn und Alois Mock am 27. Juni 1989 an einem übriggebliebenen Reststück den Bolzenschneider ansetzten.

Der Rest ist Geschichte, eine Geschichte allerdings, die sich der Europäer Max Walter Clauß nicht hätte träumen lassen.

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