Geschichte der Sexualität:Schutzwall gegen die Abtreibung

Vor 50 Jahren wurde in der DDR die "Wunschkindpille" Ovosiston eingeführt - und es entstand der Mythos vom sozialistischen Weg in der Familienplanung.

Von Wolfgang U. Eckart

Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt" war die Deutsche Demokratische Republik. Daher war Geburtenkontrolle oder Empfängnisverhütung in der frühen DDR zunächst kein Thema. Die Bevölkerungs- und Familienpolitik hatte sich schon im Artikel 32 der DDR-Verfassung von 1949 der unbedingten Förderung der "Mutterschaft" verpflichtet. Zum "Aufbau des Sozialismus" zählte nicht nur die gleichberechtigte Rolle der Frau im wirtschaftlichen Produktionsprozess, sondern zugleich die Notwendigkeit einer hohen biologischen Reproduktion. "Kinder sind die Zukunft der Nation", und deshalb sei die "Förderung des Kinderreichtums" auch eine der "vornehmsten Aufgaben unseres demokratischen Staates", hieß es in der Präambel des "Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau" vom 27. September 1950. Das ließ man sich auch etwas kosten: Bereits 1958 zahlte der Staat 500 Mark für das erste Kind und langsam ansteigend schließlich 850 für das vierte und 500 Mark für jedes weitere Kind.

"Gleichberechtigt neben dem Mann am Aufbau des Sozialismus mitzuwirken und (. . .) ihrer gesellschaftlichen Pflicht als Mutter gerecht zu werden" - das erwies sich indes bald als eine unmögliche Forderung der sozialistischen Bevölkerungspolitik. Der Frauenanteil unter den "Werktätigen" ließ sich ohne individuelle Empfängnisverhütung auch im Arbeiter-und-Bauern-Staat nicht steigern.

Sichere und angenehm praktikable Verhütungsmittel aber gab es in der DDR in den Fünfzigerjahren leider nicht. Zwar war man auch östlich der Elbe in die volkseigene Kondom-Produktion eingestiegen, aber die Gummis waren so gefühlsfremd wie der DDR-Alltag rau. Nur in der Not griff man auf solches Gummiwerk zurück, das in Erfurt exklusiv vom Plastina VEB Gummiwerke Werner Lamberz unter dem weltläufigen Namen "Mondo" (im Volksmund wegen des Preises "Gummifuffziger") in den Variationen Gold, Silber und Luxus produziert wurde.

Gleichberechtigung? Die Ost-Pille sollte Schwangerschaftsabbrüche verhindern und so Kosten senken

Als aber Anfang der Sechzigerjahre im Westen die ersten hormonellen Kontrazeptiva als "Anti-Baby-Pillen" auf den Markt kamen, da keimten auch in der DDR Hoffnungen auf einen medikamentösen Weg der Empfängnisverhütung. Der Weg zur eigenen "Pille" wurde bald zum Plan erhoben. Im Jahr des Mauerbaus, 1961, gab der Ministerrat der DDR die Entwicklung eines solchen Mittels in Auftrag und ließ dazu nicht nur beim VEB Jenapharm forschen, sondern auch bei der westdeutschen Schering AG kundschaften.

Die Informationen aus Westberlin trafen schneller ein als die aus Thüringen. Ein Erfolg der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) war dies allerdings wohl nur zum Teil, auch wenn der Hormonforscher und ehemalige Schering-Mitarbeiter Hans-Sieghard Petras noch 1961 als "Verdienter Kundschafter des Friedens" neben anderen West-Spionen hochgelobt wurde. Petras, der 1979 nach Ostberlin wechselte, um der Enttarnung im Westen zu entgehen, hatte bei Schering an der Produktionsvorbereitung des Hauptwirkstoffs für das Verhütungsmittel Anovlar mitgewirkt. Dieses Rezept vermittelte Petras über das MfS an den VEB Jenapharm, der mit dem längst bekannten Wirkstoff weiterarbeiten sollte. Tatsächlich aber orientierte sich Jenapharm dann bei der eigenen Produktion an der Rezeptur für ein synthetisches Gestagen (Aconcen) der Firma Merck, was in den Siebzigerjahren zu erheblichen Rechtsstreitigkeiten führen würde.

Auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1965 schließlich stellte der VEB Jenapharm "seine" Pille namens Ovosiston der Öffentlichkeit vor und erhielt dafür eine Goldmedaille der Mustermesse. Wirkstoff war das aus Schweinegalle synthetisierte Chlormadinonacetat. Die zweite Komponente von Ovosiston, das Estrogen Mestranol, gewann man aus Estron, das aus dem "sozialistischen Bruderland" Ungarn bezogen wurde. So war Ovosiston zwar alles andere als ein innovatives DDR-Produkt, als das es gepriesen wurde, doch immerhin war man zunächst vom "kapitalistischen Ausland" patent- und damit devisenunabhängig.

Geschichte der Sexualität: "Kinder sind die Zukunft der Nation", hieß es in der DDR unter Walter Ulbricht, hinten auf dem Plakat zu sehen. Empfängnisverhütung gab es dann trotzdem.

"Kinder sind die Zukunft der Nation", hieß es in der DDR unter Walter Ulbricht, hinten auf dem Plakat zu sehen. Empfängnisverhütung gab es dann trotzdem.

(Foto: Kai Bienert/imago)

Ändern sollte sich dies Anfang der Achtzigerjahre, als der gestiegene Bedarf an Ovosiston und seinem Folgeprodukt Sequenz-Ovosiston den devisenverschlingenden Import großer Mengen von Chlormadinonacetat erforderlich machte. Als auf Drängen des Ministerrats das DDR-Ministerium für Chemische Industrie im Februar 1982 die Importablösung des kostenexplosiven Grundstoffs für die alte Pille forderte, sperrte sich Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger dagegen, mit Hinweis auf die Unverzichtbarkeit des Gestagens für Frauen mit Akne, Haarausfall oder starker Vermännlichung, tiefer Stimme und verstärkter Gesichts- und Körperbehaarung. Solche Symptome traten in jenen Jahren vermehrt als Nebenwirkungen beim Doping von DDR-Sportlerinnen mit Steroidhormonen auf.

Die Empfängnisverhütung wurde inzwischen nach außen propagandistisch als Ausdruck der Gleichberechtigung der Frau gepriesen. In Wahrheit war sie in der DDR primär gegen die kostenverschlingende Abtreibungspraxis gerichtet. Seit Anfang der Sechzigerjahre häuften sich nämlich Anträge auf Härtefall-Aborte, die durch die strengen Indikationen des Mutterschaftsgesetzes von 1950 nicht mehr gedeckt waren, nur selten bewilligt wurden und deshalb gesellschaftliches Konfliktpotential bargen. Bis 1964 war die Zahl der "psychoprophylaktischen Schwangerschaftsberatungen" in der DDR auf jährlich fast 48 000 angestiegen. Ohne grundlegende Reform des Abtreibungsrechts ließ sich dieses Problem nicht lösen.

Die neue DDR-Pille schien hier zunächst Abhilfe zu schaffen. Aber sie wurde trotz fulminanter Markteinführung von den Frauen der Republik anfangs nicht gut angenommen. Der Preis der Monatspackung lag bei stattlichen sieben Mark. So blieb der Vertrieb mit 12 000 verkauften Packungen erheblich hinter den vertraglichen Absatzvereinbarungen zwischen dem Gesundheitsministerium und dem VEB Jenapharm (80 000 Packungen pro Quartal) zurück. Damit wurde eine Vertragsstrafe von 250 000 Mark an den Betrieb in Jena fällig. Und Jenapharm übte weiter Druck auf die Regierung in Ostberlin aus: Drosseln könne man die Produktion nicht gut. Entweder der Absatz steige, oder man müsse Ovosiston einstellen und auf Westimporte zurückgreifen.

Das wirkte. Massive Propaganda und ein auf 3,50 Mark gesenkter Preis trieben ab 1966 endlich den Absatz der Pille in die Höhe. Gegenüber knapp einer halben Million im Jahre 1967 kamen 1971 bereits 7,5 Millionen Monatspackungen für annähernd 600 000 Frauen in den Handel. Mit einem neuen Gesetz von 1972, das Schwangerschaftsabbrüche innerhalb von Fristen legalisierte, schnellte aber auch die Zahl der Abtreibungen so stark in die Höhe, dass den Sozialversicherungskassen der DDR der Kollaps drohte. Allein vor diesem Hintergrund ist der Beschluss zu verstehen, Ovosiston nun kostenlos abzugeben. "Das entscheidende Wirkungsfeld der Schwangerschaftsregelung", so schrieb Gesundheitsminister Mecklinger im Januar 1972 an seinen Kollegen im DDR-Finanzministerium, den Genossen Siegfried Böhm, sei "die Prophylaxe mit Antikonzeptionsmitteln. Die operative Beendigung einer unerwünschten Schwangerschaft" hingegen stelle die "schlechteste und teuerste Verhütungsmaßnahme dar". Damit war der Weg frei für einen "Schutzwall" gegen die Abtreibung durch die Freigabe der "Wunschkindpille" - so nannte sie 1965 der führende Sexualkundler der DDR und Rostocker Sozialhygieniker, Karl-Heinz Mehlan. Durchsetzen konnte sich dieser Name freilich nicht.

Ost-Berlin kämpfte gegen "jede Form der dekadenten und haltlosen Lebenseinstellung"

Gesundheitsminister Mecklinger hatte kalkuliert, dass die Kosten für die staatliche Subventionierung von Ovosiston, die 1971 ohnehin schon bei 3 Millionen Mark lagen, zwar weiter steigen würden; die unentgeltlichen Schwangerschaftsunterbrechungen aber würden mit der Fristenlösung die Sozialkassen noch viel stärker belasten. Mecklinger lag richtig: Hatten noch im Jahr der Abtreibungs-Liberalisierung insgesamt 119 000 Frauen legal abgetrieben, so war diese Zahl bereits 1978 auf 83 000 gesunken.

DDR - Anti-Babypille Ovosiston

"Eierstillstand" im Sozialismus: Ovosiston vom VEB Jenapharm, die erste Anti-Baby-Pille der DDR.

(Foto: dpa)

Von Anfang an befürchteten die leitenden Gesundheitskader der DDR einen Verfall der Sexualmoral nach der Einführung der Pille. "In unserer sozialistischen Gesellschaft mit ihren humanistischen Prinzipien haben sexuelle Leichtfertigkeit und Entartung keinen Platz", so schrieben ebenjener Professor Ludwig Mecklinger - ehemaliger Wehrmachtsarzt und Oberst der NVA und damals noch stellvertretender Gesundheitsminister der DDR - und Werner Hering, Abteilungsleiter für Gesundheitspolitik beim Zentralkomitee der SED, beschwörend in einem gemeinsamen Artikel im Neuen Deutschland vom 11. Dezember 1965: "So sehr uns jede Prüderie fernliegt, so sehr verlangt das sozialistische Zusammenleben ein hohes Maß gegenseitiger Achtung und Wertschätzung zwischen den Angehörigen beider Geschlechter."

Die sozialistische Gesellschaft "mit ihren Lebensidealen, ihrer Zuversicht und Gewissheit für eine glückliche Zukunft", so die Genossen Mecklinger und Hering weiter, sage "ihrem Wesen nach jede Form der dekadenten und haltlosen Lebenseinstellung den Kampf an". Alle "Organe des Gesundheitswesens", aber auch Pädagogen, Eltern und Jugendverbände, hätten alles daran zu setzen, "schon frühzeitig (. . .) an die Probleme und Pflichten des eines sozialistischen Menschen würdigen sexuellen und moralischen Verhaltens" heranzuführen. Aufgabe der Ärzte aber sei es, so 1969 die Sektionsleiterin im Gesundheitsministerium der DDR, Helga Rayner, den "Frauen weiter zu helfen, (. . .) ihre großen gesellschaftlichen und biologischen Aufgaben bei der Verwirklichung der wissenschaftlich-technischen Revolution meistern zu können". Nach außen zielte das Credo an die sozialistische Sexualmoral noch ganz im Tonfall des stalinistischen Moralisten Walter Ulbricht auf die sexuelle Dekadenz des Westens, während im Inneren die längst fällige und 1972 gerade von Ludwig Mecklinger, nun als Gesundheitsminister, umgesetzte Liberalisierung des DDR-Abtreibungsrechtes vorbereitet wurde.

Als sich Ende 1970 Hinweise verdichteten, dass der Wirkstoff Chlormadinonacetat im Ovosiston zu erheblichen Nebenwirkungen wie Krebs führen könnte und West-Hersteller wie Eli Lilly, Grünenthal oder Merck solche Präparate vom Markt genommen hatten, zog die DDR nicht mit, sondern unterband jede Pressemitteilung über solche Nebenwirkungen. Importe aus dem kapitalistischen Ausland waren zu teuer. Stattdessen wurde ab Januar 1971 bei Jenapharm mit Nachdruck an der Entwicklung eines DDR-eigenen Depotpräparates gearbeitet. Vorgesehen waren Versuche an jungen Probandinnen, denen im Falle eintretender Schwangerschaft die Abtreibung zu gewähren sei. Eine entsprechende gesetzeskonforme Indikation sei sicherzustellen. Hierzu passt die Auffassung des Ministeriums für Gesundheit aus dem Jahre 1966, dass "Ethik losgelöst allein nie zum Handlungsprinzip" erhoben werden könne, sondern "einzig und allein die Erkenntnisse der Natur- und Gesellschaftswissenschaften". Und das, "was wissenschaftlich notwendig" sei, werde "auch jedem ethischen Maßstab standhalten".

Wolfgang U. Eckart leitet das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Heidelberg.

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