Geschichte:Der klassifizierte Mensch

Das Dresdner Hygiene-Museum zeigt in einer beeindruckenden und beklemmenden Ausstellung, wie die Wissenschaft den Rassismus begründet hat.

Von Gustav Seibt

Was "Rassen" beim Menschen sein könnten, hat sich bis heute wissenschaftlich valide nicht feststellen lassen. Die moderne Mikrobiologie weiß, dass Unterschiede zwischen den Menschen nur 0,1 Prozent der gesamten genetischen Information ausmachen. Und diese Unsicherheit ist nicht neu. Schon 1910, lange vor der modernen Genetik, stellte Max Weber in einem berühmten Diskussionsbeitrag auf dem ersten deutschen Soziologentag in Frankfurt am Main fest, dass "der exakte Nachweis ganz bestimmter Einzelzusammenhänge, also der ausschlaggebenden Wichtigkeit ganz konkreter Erbqualitäten für konkrete Einzelerscheinungen des gesellschaftlichen Lebens" fehle. Das ging gegen die damals junge Wissenschaft der "Eugenik", die ein Dr. Alfred Ploetz vorgestellt hatte.

"Menschenrassen gibt es nicht", stellt daher das Katalogbuch einer Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden fest, die sich der "Erfindung von Menschenrassen" widmet. Der Begriff "Rasse" arbeitet seit jeher am Phänotyp, am Aussehen der Menschen. Er stammt ursprünglich aus der Pferdezucht der mittelalterlichen arabischen Ritterkultur und wurde danach zu genealogischen Zwecken vom französischen Hochadel aufgegriffen. Seit der europäischen Welteroberung in der Frühen Neuzeit diente er dazu, die unterschiedlich aussehenden Menschentypen der Erdteile summarisch zu klassifizieren, überwiegend nach Hautfarben. Die Einheit der Menschheit musste nicht geleugnet werden, da man "Varietäten" auf Umwelteinflüsse, vor allem das Klima zurückführte.

Erst wurde der Herero vermessen und sein Kopf abgegossen, dann stellte man ihn aus

Doch begannen schon in der Aufklärung die Beschreiber, also die "weißen" Europäer, sich den Beschriebenen, dem farbigen Rest der Erdbewohner, überzuordnen. Der Begriff "Rasse" wurde Teil einer wissenschaftlichen Praxis, und hier setzt die beeindruckende und oft beklemmende Dresdner Schau ein. Es geht zunächst nicht um Sklavenhandel und Rassismus, sondern ums Vermessen und Klassifizieren. Haut- und Haarfarben werden wie Stoffmuster sortiert. Schädel vermisst man mit Zangen, Schraubstöcken und Schiebern. Bald werden Schädel gesammelt und Gesichtsabdrücke genommen. Aus kleinen Musterköfferchen schauen einen braune oder blaue Glasaugen an.

Dass diese Art von Vermessung, vor allem das Verfertigen von Kopfabgüssen, als Gewalt erfahren wurde, zeigt ein erschütterndes Video, das die Aussage eines Herero aus dem Jahr 1931 mit Aufnahmen von dieser Praxis zusammenschneidet. Dabei geht es nicht nur um den physisch äußerst unangenehmen Vorgang, sondern auch um die anschließende Zurschaustellung. Der "Kanaje" genannte Herero zeigt ein klares Bewusstsein von der damit verbundenen Entwürdigung. Die Ausstellung spricht von "epistemischer Gewalt".

Diese Gewalt erscheint in der ersten Abteilung der Schau immer umfassender. Schöne Gipsbüsten der fünf grundlegenden Menschentypen (kaukasisch, mongolisch, äthiopisch, amerikanisch und malayisch) von 1850 oder physiognomische Zeichnungen des späten 18. Jahrhunderts ändern nichts an dem fatalen Eindruck, den die Reduktion von Menschen zu Exemplaren einer naturhistorischen Sammlung macht. Die Ausstellung rückt dies in die Nähe der Methoden der Geisterjägerei und der neuen Disziplin der Kriminalistik, vor allem Cesare Lombrosos. Dieser wollte psychische Krankheiten und Kriminalität mit körperlichen Merkmalen identifizieren.

Tasha Dougé: This Land Is OUR Land, 2016
© Tasha Dougé/ Foto: Anthony Lewis

Tasha Dougés Flagge symbolisiert die Rolle der Afroamerikaner in den USA.

(Foto: Tasha Dougé/Anthony Lewis)

Dabei ging es nicht nur um die Zerlegung von Individuen nach Einzelmerkmalen, sondern auch um Typenbildung. Mit der Methode der "Composite-Fotografie" wurden Porträts von ausgewählten Gruppen übereinander gelegt und auf einer Fotoplatte belichtet. Diese Idee ging auf den Pariser Kriminalisten Francis Galton (1822-1911) zurück, der so beispielsweise auch "jüdische Gesichter" herstellte.

Die Ausstellung reflektiert das Problem der Übergriffigkeit durch solche Forschung immer wieder, etwa wenn sie den Zugang zu einem Schaukasten mit einer Menschenmaske so eng gestaltet, dass der Betrachter sich selbst in einer Messbox wiederfindet. Totenmasken von einem angeblichen "Verderber" und einem "Mörder" werden hinter Gazeschleiern gezeigt. Die kraftvollen Haare einer schwarzen Frau wiederum zeigt die Schau ohne Glas davor, sodass der Besucher sich der Versuchung ausgesetzt sieht, sie anzufassen.

Eine weitere Nachbarschaft, die die Ausstellung herstellt, verweist auf Statistik und Einwohnermeldewesen. Der Begriff "Rasse" behandelt Staatsbürger als "Bevölkerung", als Population. Rechenmaschinen, Ahnenpässe und rassische Selbsteinordnungen (aus Amerika) konfrontieren den Einzelnen mit seiner angeblichen Natur. Traurig sind Gesichtscremes, die dunkle Haut hell färben sollen, oder Klebestreifen mit denen asiatische Lidformen korrigiert werden - Menschen, vor allem Frauen, hadern mit ihrem Phänotyp.

Allerdings macht es sich die Ausstellung in ihrem wissenschaftskritischen Teil auch zu leicht. Es ist einfach, heute vor der Zoologisierung von Menschen zu erschrecken. Doch wie steht es mit der modernen Medizin? Sie wird nur gestreift. Dabei hat pränatale Diagnostik die alte Eugenik abgelöst und individualisiert. Jeder Arzt muss bei der Diagnose Symptome und Einzelbefunde isolieren und klassifizieren, auch wenn er sich die Mühe für Patientengespräche macht. Laborbefunde sind nach wie vor anonym.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ging der zunächst klassifikatorische Begriff der Rasse eine Verbindung mit Darwins Evolutionstheorie ein. Damit dynamisierte und politisierte er sich. Rassen erschienen als wandelbar und bald als machbar. Sie standen in einem "Kampf", der vielen Historikern im Zeitalter des Imperialismus zum Generalschlüssel der Weltgeschichte wurde. Phantasmen von Reinheit und Vermischung, Züchtung und Degeneration verbanden sich zu Utopien von gesellschaftlicher, ja naturgeschichtlicher Steuerung.

Nilpferdpeitsche, Fussfessel und "Sklavenzügel" aus Westafrika, vor 1888

Peitsche, Fessel und „Sklavenzügel“.

(Foto: Derek Li Wan Po/Museum der Kulturen Basel)

An dieser fatalsten Wendung rassistischen Denkens und Handelns hatte das 1912 gegründete Hygiene-Museum direkten Anteil. Es widmete sich in den Dreißigerjahren auch der "Erbgesundheit", des "ewigen Volks" und dem Wunsch nach Restitution der ehemaligen deutschen Kolonien. Dabei setzte sich die eigentümliche Verbindung von moderner Methodik mit fragwürdigen Hypothesen, die das Rassedenken insgesamt charakterisiert, fort. Seit 1930 produzierte das Hygiene-Museum "Gläserne Menschen", Figuren, die Skelette, innere Organen, Blutgefäße unter einer durchsichtigen Haut erkennen ließen. Schautafeln für den Schulunterricht verbreiteten Rassentypologien mit vermutlich bis heute anhaltender Wirkung. Das Museum reagiert mit der Selbsthistorisierung auch auf Verdächtigungen, denen sich Dresden seit den Pegida-Demonstrationen und den Wahlerfolgen der AfD ausgesetzt sieht. Der Begriff "Entartete Kunst" wurde zum ersten Mal schon 1933 in der schönheitstrunkenen sächsischen Residenz verwendet. Das macht allerdings die Münchner Schau von 1937 nicht besser.

Die globalen Seiten des Rassismus samt ihren folkloristischen Reflexen in der Alltagskultur kann die Ausstellung naturgemäß nur exemplarisch streifen. Der evolutionstheoretisch aufgeladene Rassenbegriff, so hat es Christian Geulen, einer der Macher der Dresdner Schau, dargestellt, verdankte seine Wirksamkeit der Verbindung von Unschärfe mit vorgeblicher wissenschaftlicher Neutralität. Eine "Rasse" hatte ja jeder, während in früheren Gegenbegriffen wie "Hellene" und "Barbar" die Gewichte von vornherein asymmetrisch waren. Biopolitik wurde "sachlich" als naturwissenschaftlich fundierte Notwendigkeit propagiert. So konnte Menschenvernichtung ohne Hass und Leidenschaft ins Werk gesetzt werden.

Das eugenische Rassedenken war auf Fortpflanzung und damit auf Sexualität fixiert

Man sollte auch die beiden Begleitbände lesen und für die Ausstellung selbst genügend Zeit einplanen, um die reichhaltig angebotenen Videos zu betrachten (leider fehlt ein Youtube-Kanal). Manche sind schwer zu ertragen, so das eines über 90 Jahre alten Homosexuellen, der unter den Nazis im KZ saß und nach dem Krieg immer noch nicht über seine Leiden sprechen konnte. Die grenzenlose Trauer dieses Menschen löst sich für ein paar Minuten aus der Versteinerung. Das eugenische Rassedenken war auf Fortpflanzung und damit auf Sexualität fixiert. Der Begriff der Widernatürlichkeit wanderte aus der Sündenlehre in die Wissenschaft.

Die Videos schließen den Kreis der Ausstellung auch systematisch, weil sie die Individuen, die von ihren Erfahrungen mit dem Rassismus berichten, aus der Zerteilung in Merkmalskataloge herausholen. Die Monstrosität rassistischen Denkens wird nicht nur begreifbar, sondern mehr noch fühlbar. Menschliche Unterschiedlichkeit verschmilzt mit einer Empathie, die keine Grenzen kennt. Mehr kann man von einer Ausstellung nicht erwarten.

Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen. Deutsches Hygiene-Museum, Dresden. Bis 6. Januar 2019. Katalog (Wallstein) 16,90 Euro. Begleitband: "Das Phantom 'Rasse'. Zur Geschichte und Wirkungsmacht von Rassismus." (Böhlau) 30 Euro.

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