Gender-Debatte:Krone der Erschöpfung

Salzgitter AG

Hier war er Mann, hier durfte er's sein: Stahlarbeiter eines Hochofens in Salzgitter.

(Foto: dpa)

Der Mann ist in der Krise. Seine Jobs verschwinden, seine Risikofreude ist nicht mehr gefragt. Oder ist alles nur eine Klassenfrage?

Von Julian Dörr

Vielleicht braucht es, bevor man über die Männlichkeit an sich reden kann, erst ein paar Fakten. Die Arbeitslosenquote zum Beispiel: Die liegt bei Männern seit einigen Jahren höher als bei Frauen. Oder die Selbstmordrate: In Deutschland nehmen sich dreimal so viele Männer das Leben wie Frauen. Wenn in jüngster Zeit Texte über den Mann geschrieben werden, dann tauchen diese Statistiken auf. In Deutschland, in Großbritannien, in den USA. Als Beleg für die gesellschaftliche Marginalisierung des Mannes, seine schwindende Bedeutung, seinen Rollenverlust als Krone der Schöpfung. Aber vor allem für die sogenannte Hecession. Mit diesem englischen Wortspiel ist gemeint, dass die wirtschaftliche Rezession Männer besonders hart trifft, weil die einst von ihnen dominierte Industriearbeit in den vergangenen Jahrzehnten vielerorts verschwunden ist.

Der Mann, so lassen sich diese Zahlen lesen, ist in der Krise. Und er verträgt diese Krise gar nicht gut. Sie macht ihn zum Extremisten, zum Fanatiker, Gewalttäter, vielleicht sogar zum Terroristen, mindestens aber zum Trump-Wähler. Der Mann ist ein gesellschaftlicher Problemfall. Und wie so oft, wenn es Probleme gibt, muss jemand schuld sein. Deshalb ist die Interpretation dieser Zahlen - das, was der Problemfall selbst aus ihnen herausliest - ausgesprochen aufschlussreich. Etwas verkürzt lautet die Interpretation: Der Mann ist jetzt Opfer. Von Globalisierung, Feminismus und der bösen neuen Welt.

Männer sehen sich als Verlierer, im Leben, im Job. Einer amerikanischen Studie zufolge fühlen sich mehr männliche Millennials, also Männer zwischen 18 und 34, im Arbeitsleben wegen ihres Geschlechts diskriminiert als Frauen. Männer halten ihre Aufstiegschancen für beschränkt, weil Frauen bevorzugt würden. Aber ist das nicht nur die gefühlte Wahrheit gut situierter White-Collar-Jungs? Fakt ist: Die finanzielle Geschlechterungleichheit ist gerade größer als noch vor acht Jahren. Sie zu überwinden könnte nach Schätzungen des Berichts des World Economic Forum noch bis zum Jahr 2186 dauern. Unter den hundert reichsten Menschen der Welt finden sich zehn Frauen. In den Vorständen deutscher Dax-Unternehmen sitzen 45 Frauen insgesamt 630 Männern gegenüber.

Was aber ist mit den Männern am anderen Ende des gesellschaftlichen Spektrums? Fakt ist auch: Es gibt Bereiche, in denen Männer tatsächlich zurückfallen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts musste die Arbeiterklasse in den führenden Industrienationen, die zu großen Teilen aus Männern bestand, harte Schläge hinnehmen. In der globalisierten, kapitalistischen Welt wanderten Jobs und Unternehmen aus einstigen Industrienationen in lukrativere Regionen ab. Die einheimische Industrie starb ab. Es war der Beginn vom Ende der Montanindustrie. Und der Anfang einer neuen wirtschaftlichen Ausrichtung, hin zu einer service- und dienstleistungsorientierten Gesellschaft.

Dieser Wandel macht den Männern bis heute zu schaffen. Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2014 zeigt, dass Männer in den vergangenen Jahrzehnten deutlich schlechter mit dem Verlust ihres Jobs umgingen als Frauen. Obwohl diese viel häufiger vom Verschwinden sogenannter mittelqualifizierter Jobs betroffen waren, schaffte es die große Mehrheit der Frauen, ihre Qualifikationen auszuweiten und in einen besser bezahlten Job aufzusteigen. Die Mehrheit der Männer im selben Segment rutschte in gering qualifizierte Jobs ab.

Zu beobachten sind also zwei gegenläufige Entwicklungen: Während die männliche Arbeiterklasse verschwindet und Männer auch in der Zahl der Universitätsabsolventen hinter die Frauen zurückfallen, sammeln sich Reichtum und wirtschaftlicher Erfolg in den Händen weniger Personen - vor allem in den Händen von Männern. Männer stehen ganz oben, aber sie stehen auch ganz unten.

Ist die Krise des Mannes am Ende also eine Klassenfrage? Sind es die Fliehkräfte eines Systems, das die Schwachen schwächt und die Starken stärkt? Dreht sich der Streit am Ende gar nicht um die eingebildeten und realen Ängste von Büroangestellten und Arbeitern, sondern um den Kapitalismus?

Die Arbeitsplätze der Zukunft verlangen nicht Muskelkraft, sondern soziale Fähigkeiten

Der Schweizer Soziologe und Männerforscher Walter Hollstein hat in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung jüngst Fakten und Thesen zum Auslaufmodell Mann zusammengestellt. Er erwähnt Bücher und Aufsätze mit Titeln wie "Manning up: How the Rise of Women has turned Men into Boys" oder "Das Ende der Männer und der Aufstieg der Frauen". Hollstein lobt jene gering qualifizierten Beschäftigungen, die vor allem von Männern ausgeübt werden. Die tägliche Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft hänge von Arbeiten ab, sagt Hollstein, "die Männer machen und Frauen gar nicht machen wollen: Müllabfuhr, Entsorgung, Tiefbau, Gummiverarbeitung, Straßenfegen oder Abwasserreinigung". Hollstein erzählt auch von den Rettungsmännern von Tschernobyl und 9/11 und den männlichen Helfern, die dabei ums Leben kamen. Seine Forderung: mehr Respekt für männliche Tugenden wie Risikobereitschaft, Selbstbeherrschung und Arbeitswillen.

Aber was passiert mit diesen risikobereiten, selbstbeherrschten und arbeitswilligen Männern, wenn Maschinen den Müll abholen und Roboter die Straßen reinigen? Werden dann die Männer nach der Globalisierung auch noch der Digitalisierung und Automatisierung der Gesellschaft die Schuld an ihrem Niedergang geben? Wo doch, um nur ein Beispiel zu nennen, die Ausbildung zur männlichen Pflegekraft gesamtgesellschaftlich gesehen wahrscheinlich der sinnvollere Weg wäre? Ein Job, vom dem zwar die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft abhängt, aber der mit Risiko und der klassischen Vorstellung von harter "männlicher" Arbeit nichts zu tun hat.

Der Fortschritt führt nun einmal dazu, dass die Jobs der Zukunft auf Dienstleistungen und sozialen Interaktionen basieren, und dafür sind andere, "weichere" Fähigkeiten wichtiger als Muskelkraft und Durchsetzungsvermögen. Deshalb entsprechen diese Jobs eher dem Klischee, das sich die Gesellschaft von der Rolle der Frau gemacht hat, nicht dem Männerbild.

Der junge britische Journalist Jack Urwin diagnostiziert in seinem kürzlich erschienenen Buch "Boys don't cry" eben diese Vorstellungen von Männlichkeit als Problem. Männern werde von Kindesbeinen an beigebracht, dass "Männlichkeit" bedeute, keinen Wert auf soziale und emotionale Kompetenzen zu legen. Urwin ist für die Debatte über das Männerbild das, was Laurie Penny für den Feminismus ist. Ein Pop-Aktivist, flapsig im Stil, aber immer verständlich. Oft redundant, aber von bestechender Klarheit.

Wichtiger als Geschlechterfragen ist die Überlegung, wie alle besser zusammenleben können

Das Männerbild sei ein vererbtes Leiden, schreibt er. Männer würden von Männern aufgezogen, die emotional nicht kommunizieren können. Und das vergifte nicht nur ihr Leben, sondern auch das aller Menschen, die mit ihnen in einer Beziehung stehen: Partner, Kinder, Freunde. Im englischen Original trägt Urwins Buch den Untertitel "Surviving Modern Masculinity", die moderne Männlichkeit überleben. Und genau darum geht es: ums Überleben.

Risikobereitschaft ist für Urwin ein Symptom toxischer Männlichkeit. Männer gehen größere Risiken ein als Frauen, weil Risikobereitschaft eine gesellschaftlich tief verankerte männliche Eigenschaft ist - auch wenn sie auf Kosten des eigenen Lebens geht. "Toxische Männlichkeit erwächst im Grunde aus der Angst vor Entmannung, die als das Schlimmste gilt, was einem Mann passieren kann, so schlimm, dass wir den Tod in Kauf nehmen, um sie zu vermeiden", schreibt Urwin: "Es gibt kein echtes Äquivalent dafür bei Frauen. Warum? Weil sie in der Hierarchie schon ganz unten sind. Männer fürchten Entmannung, weil sie damit ganz nach unten fallen und den Frauen gleich werden."

Die Angst als große und am Ende vielleicht einzige Triebkraft menschlichen Handels, da taucht sie wieder auf. Angst vor der Arbeitslosigkeit, Angst vor dem Bedeutungsverlust, Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg. Es geht um Männer, die nicht mehr da stehen, wo sie einst standen, die unter einem Gefühl von Verlust leiden. Ihre Antwort ist der Rückzug in die Opferrolle und die Besinnung auf eine traditionelle Vorstellung von Männlichkeit.

Deshalb verbirgt sich in der Frage nach den Geschlechterrollen die grundsätzliche Überlegung, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Und während das eine Lager hartnäckig die Leistungsfähigkeit des Mannes als höchstes Gut in der Leistungsgesellschaft unterstreicht und sich dabei auf alte Tugenden beruft, strebt die progressive Position nach einer Verbesserung des Zusammenlebens aller.

Noch aber ist die Remaskulinisierung überall zu spüren. Auf den wildmännischen Zeitschriftencovern am Bahnhofskiosk. In den holzvertäfelten Barbershops der Großstädte. Sogar, verdeckt, auf ZDFneo. Dort fragte der Anti-Macho Olli Schulz jüngst in der Talkrunde "Schulz & Böhmermann", ob er denn jetzt noch einen Pimmelwitz machen dürfe - oder ob das sexistisch sei. Als gäbe es jemanden, der die männliche Sprache kontrolliert, als dürfte ein Mann nicht sagen, was er denkt.

"Das oberste Ziel des Feminismus ist, in allen Aspekten unseres Lebens Gendergleichheit zu erreichen", schreibt Jack Urwin: "Dann gäbe es keine Entmannung mehr. Wenn wir Männer in der Hierarchie nicht mehr über Frauen stehen, können wir auch nicht fallen." Vielleicht wird die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit eines Tages endlich als ein Projekt für eine bessere Gesellschaft gesehen. In dem einige ein kleines bisschen fallen müssen, damit andere aufsteigen können.

Der Text ist der Auftakt zu einem Online-Schwerpunkt über "Männlichkeit in der Krise" auf www.sz.de/maennlichkeit

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