Geisteswissenschaften:Volk ohne Lust

Ist der Begriff "Populismus" wissenschaftlich unbrauchbar? Um nicht zu sagen: populistisch? Am Hamburger Institut für Sozialforschung wurde angesichts des Wahlkampfes darüber diskutiert, was jenseits jenes "Totschlagarguments" der Demokratie zusetzt.

Von Willli Winkler

Als wissenschaftlicher Begriff, sagt Philipp Müller, sei der so handliche "Populismus" völlig unbrauchbar. Das ist ein schlimmer Befund, weil er Evangelische Akademien und nächtliche Phoenix-Runden schnell leerräumen könnte, in denen Populisten Populisten gern als Populisten entlarven. Die Arbeitsplatzvernichtung geht aber munter weiter: Die Verdammung der AfD sei von Anfang an ein Fehler gewesen, ergänzt Hedwig Richter und fügt hinzu, dass Demokratie schon immer ein Projekt der Eliten gewesen sei. Das sogenannte Volk, auf das sich nicht erst die AfD beruft, hatte noch nie viel Lust, zur Wahl zu gehen; in den Vereinigten Staaten wurde der Urnengang eine Zeitlang sogar mit einem Dollar pro Wähler subventioniert.

Ohne das griffige Wort "Populismus" kam aber eben auch die Diskussionsveranstaltung nicht aus, die am Mittwochabend in Zusammenarbeit mit der tageszeitung im Hamburger Institut für Sozialforschung stattfand. Dessen Leiter Wolfgang Wolfgang Knöbl empfahl deshalb, statt des "Totschlagarguments", jemand rede oder agiere "populistisch", lieber gleich zu sagen, er sei ein "Rassist" oder ein "Nazi". Das klang erheblich schlichter als die Argumente, die Müller und Richter vortrugen, die zusammen mit Clara Maier zur institutseigenen Forschungsgruppe "Demokratie und Wahlen" gehören.

Jenseits der bewährten "sozial Abgehängten" als Potenzial der Rechtsparteien in Frankreich und Deutschland sieht Clara Maier eine "unheilige Allianz" zwischen dem Neoliberalismus und dem neuen Nationalismus. Dem libertären Wirtschaftsdenken entspreche die konsumistische Haltung, politisches Handeln wie eine Verrechnung von Einnahmen und Ausgaben, von Einsatz und Ertrag zu betrachten. Gewerkschaften und Parteien hätten an Bindungskraft verloren, wovon identitäre Gruppen profitierten. So konnte es geschehen, dass in Großbritannien, wo der Staat durch seine Austeritätspolitik nicht mehr für bezahlbaren Wohnraum sorgen wollte, in der Brexit-Propaganda die Verantwortung für diesen Zustand nicht dem Regierungshandeln angelastet wurde, sondern den Einwanderern aus Rumänien. Außerdem sei es seit dem Zusammenbruch des Ostblocks schwieriger geworden, die liberale Demokratie zu verteidigen.

Warum man den laufenden Wahlkampf als so langweilig empfinde, fragte der Moderator Jan Feddersen und wollte sich nach alten Haudegen wie Wehner und Strauß sehnen. Knöbl rührte an ein ganz anderes Problem: "Das Parlament hat massiv an Einfluss verloren." Darum sei es gar nicht so wichtig, dass die AfD in den Bundestag einziehe. Niemand aber fasste das Verhältnis des Wahlbürgers zu seinen Vertretern besser zusammen als die Frau, die aus dem Publikum rief: "Wir konsumieren, und die sollen springen. Wir sind doch langweilig!"

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