Geisteswissenschaften:Fiktionsfähig

Eine Reihe am Hamburger Institut für Sozialforschung versucht, den Kapitalismus der Gegenwart neu zu erklären. Vom Eröffnungsvortrag konnte man lernen, was Wirtschaft und Ehebruch miteinander zu tun haben.

Von Till Briegleb

Wer hätte gedacht, dass Madame Bovary einmal in einer Reihe mit Karl Marx und Max Weber auftauchen würde, um den Erfolg des Kapitalismus zu erklären? Bei Jens Beckert ist das möglich. Der Leiter des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung untersucht in seinen Büchern die Wurzeln der Preisentwicklung auch schon mal anhand von zwei Flaschen Wein - die eine für 1,50 Euro beim Discounter, die andere ein Mouton-Rothschild -, um zu zeigen, dass ökonomische Marktgesetze nichts mit Naturwissenschaften zu tun haben. Und Madame Bovary, Gustave Flauberts berühmte Ehebrecherin, diente Beckert jetzt dazu, eine neue Vortragsreihe im Hamburger Institut für Sozialforschung zu eröffnen, die nach den "Bausteinen des Kapitalismus" fragt.

Die von Wolfgang Knöbl - dem neuen Leiter des Hauses nach Jan Philipp Reemtsma - und Aaron Sahr konzipierte Serie geht von der Beobachtung aus, dass trotz des Universalerfolgs des Kapitalismus nach 1989 die Versuche, das System wissenschaftlich zu erklären, immer fragmentierter werden. Im Gegensatz zu frühen Formen wie Handels- und Industriekapitalismus, wo trotz verschiedener politischer Interpretationen halbwegs Einigkeit über die Kernstrukturen des Systems bestand, sei heute der Konsens darüber, was die wesentlichen Triebkräfte unserer aktuellen Wirtschaftsform sind, ziemlich dahin.

Schon die zahllosen Theorietitel, die momentan im Umlauf seien, zeugen von der großen Unsicherheit darüber, was eigentlich der steuernde Geist des modernen Wirtschaftens sei: Digital- und Wissenschaftskapitalismus, ästhetischer und Finanzkapitalismus konkurrieren als Etikette im Deutungswettstreit. Diese zersplitterte Begrifflichkeit nimmt das Institut nun zum Anlass, nach "Bausteinen" zu suchen, die für das Fundament einer neuen Theorie des Kapitalismus taugen, einer Theorie, die über die Benennung von offensichtlichen Phänomenen hinausgeht. Und der erste Vorschlag ist Jens Beckerts "Kapitalismus als imaginierte Zukunft", den er diesen Sommer in seinem Buch "Imagined Futures: Fictional Expectations and Capitalist Dynamics" präsentiert hat.

Und hier kommt Madame Bovary ins Spiel. Denn Beckert fragt sich, warum die Menschen so begeistert Flauberts Roman lesen, obwohl "darin doch alles gelogen ist". Offensichtlich haben Autor und Leser einen Vertrag geschlossen, auf einen "Wahrheitscheck zu verzichten", weil gerade das "Als ob" der Literatur einen Raum für Vorstellungen eröffne, wie die Welt anders sein könnte, als die Gegenwart sie erscheinen lässt. Diese "Fiktionsfähigkeit des Menschen" erklärt Beckert nun auch zum zentralen Aspekt für die kapitalistische Dynamik, denn sie allein gebe wirtschaftlichen Entscheidungen in Zeiten hoher Ungewissheit ihren Halt.

Nicht Kalkulation, sondern Fantasie entscheidet über Innovation und Erfolg

Ein Narrativ über künftige Zustände, also die ausgeschmückte Fiktion, was mit dem Einsatz von Kapital bald möglich sei, schaffe jene "kommunikative Konstruktion von Zuversicht", die wirtschaftliche Akteure zum Einsatz ihrer Ressourcen verführt. Nicht Kalkulation, sondern Fantasie entscheide über die Innovationsfähigkeit von Unternehmen. Und wie bei Madame Bovary sei bei diesen Erzählungen über eine mögliche Zukunft nicht das Faktische entscheidend, sondern, ob sie im Wettbewerb der Glaubwürdigkeit bestehen.

Spekulative Wirtschaftszahlen, die für jede Kapitaleinwerbung mitgeliefert werden müssten, um so "spinnerte Ideen" wie die Stammzellenforschung oder das Smartphone auf den Weg zu bringen, also die in der Ökonomie so hoch gepriesene Kosten-Risiko-Kalkulation anhand von Kennzahlen, sei in diesem Glaubwürdigkeitswettbewerb eher nebensächlich. Was zählt, ist die Plausibilität der Fiktion. Und selbst die vielen gescheiterten Erzählungen von glorreichen Markteinführungen und unermesslichem Reichtum - wie Elizabeth Holmes' neun Milliarden schwere Bluttest-Fake-Firma Theranos - änderten nichts daran, dass auch fortan immer die Kraft der Geschichte die Intensität des Einsatzes bestimmen wird. Die nächste faszinierende Produkt-Prophezeiung kommt bestimmt.

Mit Madame Bovary als Kronzeugin fordert der Soziologe Jens Beckert die Wirtschaftswissenschaften deshalb zum methodischen Ehebruch auf. Um die Dynamik des Kapitalismus und die Gesetze der Märkte wirklich zu verstehen, reiche es nicht aus, die Entscheidungen seiner Akteure als rational zu benennen und daraus mathematische Regelwerke abzuleiten. Die Wirtschaftswissenschaften müssten vielmehr selber "eine hermeneutische Disziplin" werden, sich also der Kunst der Interpretation öffnen, wie sie die Geisteswissenschaften kultivieren.

Tatsächlich liefern die Literaturwissenschaften ja reichlich Material, um die Motive und Bedeutungen ökonomischen Verhaltens zu verstehen. Wie etwa Emma Bovary, diese einsame und gelangweilte Ehefrau sich heillos verschuldet, um ihr Laster- und Luxusdasein zu finanzieren, ist ein Lehrstück darüber, warum der Warenumsatz und die kapitalistische Dynamik wenig mit rationalen Entscheidungen zu tun haben. Im Gegensatz zum tragischen Ende dieser Erzählung hat sich der Kapitalismus aus seinen Krisen aber immer wieder gestärkt erhoben. Das zu erklären, obliegt nun den weiteren Theorie-Steinmetzen in dieser Hamburger Baustein-Reihe.

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