Geisteswissenschaft:Der Mensch muss spielen

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Der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp erhält in Marbach den Schillerpreis und spricht darüber, wie Kunstwerke Ängste bannen und Gewalt verhindern können. Er wünscht sich einen "Denkraum" zwischen Bild und Mensch.

Von Kia Vahland

Die blendend weiße Schillerbüste auf der Bühne der Stadthalle Marbach versank fast in dem überbordenden gelben Blumenmeer. Vielleicht hatte der Dekorateur vorher ein bisschen viel von Horst Bredekamp gelesen, dem Berliner Kunsthistoriker, der am vergangenen Freitag hier mit dem Schillerpreis ausgezeichnet wurde. Das Organische und das von Menschen Geformte, das Zusammenspiel von Kunst und Natur, Skulpturalem und Pflanzlichem, aber auch von Technik, Philosophie und Naturwissenschaft gehört zu den großen Linien im Werk des 70-jährigen Gelehrten.

Die Laudatio hielt der amerikanische Literaturwissenschaftler und Pulitzer-Preisträger Stephen Greenblatt, und es war eine funkelnde Liebeserklärung. Der Shakespeare-Kenner knüpfte an das Lob der Romantiker auf den Dramatiker an, wonach sich Leidenschaft und Analysevermögen bedingen sowie die Neugier auf die Welt und der Mut, unterschiedlichste Sachgebiete zusammenzufügen. Bei Bredekamp reiche das Spektrum von der Venus von Willendorf über die Florentiner Renaissance bis zu Frank Gehry, von dem Psychoanalytiker Jacques Lacan über Palmyra bis zu chinesischen, arabischen, mitteleuropäischen Denkern der Vormoderne. Alle Gedanken und Objekte fänden bei ihm in einer Wunderkammer des Wissens zusammen, durchwirkten einander, führten auf spielerische Art zu neuen Sichtweisen. Quasi ein Prometheus ist Bredekamp für Greenblatt, ein Wesen, das den Göttern das Feuer stiehlt, es den Menschen bringt und scheinbar tote Materie, hier die Werke der Kunst und Technik, zum Leben erweckt. Bei so viel Enthusiasmus klang Staunen und Neid mit an darüber, wie viel anarchisches Denken und intellektuelles Ausprobieren an deutschen Universitäten (Bredekamp lehrte in Hamburg und seit 1993 an der Humboldt-Universität Berlin) möglich ist oder lange möglich war.

Kunst ist kein Luxus, sondern Gewaltprävention und ein für alle offener Denkraum

Greenblatt befand, diese Lust am Experiment passe zu Friedrich Schiller, der meinte, der Mensch sei nur "da ganz Mensch, wo er spielt". An dieses Schlusszitat knüpfte Bredekamp in seiner Dankesrede an. Das Spiel sei für ihn deshalb so wichtig, weil es keinen Zweck brauche und dem Spielenden, sei er Kind, Künstler oder Forscher, die Freiheit der Formentscheidungen lasse. Dies ist für Bredekamp, frei nach Schiller, das Emanzipatorische an der Kunst. Weil es nicht von außen bestimmt ist, kann im Kunstwerk der Mensch, als Schöpfer oder Betrachter, zu sich selbst finden. Zwischen Person und Werk entsteht ein Denkraum, wie es Bredekamps Vordenker, der Kunsthistoriker Aby Warburg formuliert hat, und dieser erst erlaubt die nötige Distanznahme, Selbst- und Welterkenntnis. Ein solch reflexiver Besinnungsraum ist in Bredekamps Denken und Fühlen unabdingbar, er kann in seinen Augen verhindern, dass Mensch und Umwelt zu verschmelzen drohen, Leute sich in Destruktionen verlieren, die unmittelbare Gewalt nicht mehr einzuhegen ist.

Die Kunst kann so gesehen den Menschen schützen, weil er in ihr zu symbolischen Formen finden, seine Ängste bannen kann, ohne das, was ihn fürchten lässt, vollständig vernichten zu müssen. Bredekamp erinnerte in seiner Rede an das im Jahr 1988 von Ulrich Raulff edierte Büchlein "Schlangenritual" von Aby Warburg. Der Kunsthistoriker Warburg hatte 1923 als Patient in einem Sanatorium einen Vortrag über die Puebloindianer gehalten, welche die von ihnen gefürchteten Schlangen nicht töten, sondern sie ablenken, in den Mund nehmen, rituell bändigen und dann wieder freilassen, auf dass sie ihre scheinbar magischen Energien für den Menschen nutzbringend einsetzen. Das Bedrohliche lässt sich zivilisatorisch verwandeln, und dafür ist die Kultur da, das Ritual wie auch das Kunstwerk.

Kunst ist so gesehen kein Luxus, sondern Gewaltprävention. Sie kann den Menschen von dem Gefühl der Ohnmacht emanzipieren, kann Machtverhältnisse auf die Probe stellen, weil sie nie gänzlich vom Mächtigen kontrollierbar ist, sondern durch ihr merkwürdiges Eigenleben auch auf ihn zurückzuwirken vermag.

Wenn man erst Greenblatt, dann Bredekamp zuhört, immer die weiße Schillerbüste auf der Bühne vor Augen, meint man irgendwann, Schiller werde gleich die bleichen Backen aufblasen und den braven Blumendekor um ihn herum in einem emanzipativen Akt kreativer Selbstbestimmung hinwegpusten. Das tat der Marbacher Ahnherr dann doch nicht. Dafür projizierte Bredekamp an die Wand ein Foto Greenblatts, der einmal als Möchtegern-Schamane in einer von Bredekamp inspirierten interdisziplinären Ausstellung tanzte, etwas ungelenk noch, aber freudig darüber, was in diesem Deutschland alles geht.

Ob der Kunsthistoriker die Verhältnisse auch im Großen zum Tanzen bringen kann, das muss er in den nächsten Jahren unter Beweis stellen. Die schwierigste Aufgabe steht ihm noch bevor. Er ist einer der drei Gründungsintendanten des Humboldt-Forums, dem einige Kolonialismusforscher im Moment noch nicht zutrauen, ausgerechnet im rekonstruierten Preußenschloss eine, wie es Bredekamp sich wünscht, "nichthierarchisch aufgestellte Welt der Exponate" zu entfalten. Damit hier ein Warburgscher Denkraum entstehen kann, braucht es von allen Seiten viel Lust am Experiment.

© SZ vom 13.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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