Gegenwartslyrik:Flugbahn ohne Gewissheit

Gegenwartslyrik: Christian Lehnert: Windzüge. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 113 Seiten, 18 Euro.

Christian Lehnert: Windzüge. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 113 Seiten, 18 Euro.

Der Theologe Christian Lehnert hat sich vorgenommen, die Tradition der geistlichen Dichtung zu erneuern - sein neuer Band "Windzüge" zeigt, wie schwierig es ist, Gott anzurufen.

Von Burkhard Müller

Die geistliche Dichtung befindet sich in keinem guten Zustand, wer bestritte es? Nimmt man ein Gesangbuch der beiden großen Kirchen zur Hand, stellt man fest, dass die Kirchenlieder aus dem 18. Jahrhundert schwächer sind als die aus dem 17., die aus dem 19. schwächer als die aus dem 18., die aus dem 20. schwächer als die aus dem 19. (Das 21. Jahrhundert scheint es völlig aufgegeben zu haben.). Jene Gattung, die es als ihre edelste Aufgabe betrachtet, Gott die Ehre zu geben, scheint je länger desto weniger noch ernsthafte Autoren anzuziehen. Die Theologie predigt vielleicht noch, aber sie dichtet nicht mehr.

Außer in Gestalt von Christian Lehnert, der 1969 in Dresden geboren wurde und bis heute in Sachsen verwurzelt ist. Der Klappentext stellt ihn vor als Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts an der Universität Leipzig und, außer als Lyriker, Verfasser eines bei Suhrkamp verlegten Essays über den Apostel Paulus mit dem Titel "Korinthische Brocken".

Ob das klappt? Der Leser steigt in den Band "Windzüge" durchaus nicht unvoreingenommen ein, sondern hin- und hergerissen von dem Vorurteil, das müsse doch unbedingt schief gehen, und dem Wunsch, es möge noch einmal gelingen. Denn insgeheim sehnen sich viele, selbst unter ihren Verächtern, nach einem neuen starken Auftritt der christlichen Religion, die sich im Mund ihrer Verkündiger heute oft ausnimmt wie eine deutlich unter Wert gehandelte Aktie.

Lehnert weiß es, welch übermächtiger Tradition, die seit dreihundert Jahren nicht mehr wirklich fruchtbar geworden ist, er sich überantwortet, und er schreckt vor diesem Zeitenabgrund nicht zurück. "Der Gott, den es nicht gibt, ist mir ein dunkler Riß, / ist meiner Seele nah, sooft ich ihn vermiß." Ist das wirklich Lehnert im Jahr 2015? Es klingt vollkommen wie der barocke evangelische Mystiker Angelus Silesius.

Gott, der einst so große und präsente, entzieht sich heute seiner Anrufung. Sicher, der deus absconditus, der verborgene Gott ist in der modernen Theologie zum Gemeinplatz geworden, und man kann es sich sogar bequem damit machen, wie wenn der Chef des Hauses auf Dienstreise ist. Aber ein solcher Gott hat jedenfalls nichts mehr zu verheißen. "Mit einem Satz hockt bei den Pfählen / ein Gott, der hungert. Lächelt er? / Verunsichert? Kann nicht erzählen, / was gestern war, die Kurzzeit: leer?"

Ein Gott, der hungert, bietet höchstens noch den Trost des Schicksalsgenossen. Und selbst wer daran erinnert, dass Gott immerhin in einem Stall zur Welt kam, stolpert doch über dieses ganz und gar menschlich-zeitgenössische "verunsichert". Gott darf arm und ohnmächtig sein - aber verunsichert wie ein frustrierter Normalbürger, der auf therapeutischem Weg wieder zum Funktionieren gebracht werden soll? Das wohl eher nicht.

Der sich entziehende Gott wirft für den Dichter nicht zuletzt ein Formproblem auf. Wie von dem reden, was nicht da ist, ja nicht einmal recht vorstellbar - einem Phantomschmerz? Lehnert greift hier zur Reaktivierung altbewährter Muster, des Reims, des Sonetts und anderer Formen. Aber er fühlt, dass sie heute in ihrer klassischen Reinheit nicht mehr zu gebrauchen sind, und baut kleine Rauheiten oder Sprünge ein; er spielt sie "dirty" wie einen Blues. Dann reimt sich "Körper" auf "Gestöber", oder vielmehr, es reimt sich eben nicht, sondern liegt um den ausdrucksvollen Viertelton daneben.

Und doch, dieser Eindruck bleibt der vorherrschende, geht hier allzu vieles allzu glatt von der Hand. Bibelstellen haben ihren erwartbaren Auftritt, die Naturlyrik ist machtvoll mit Bibernellen und Schwarzpappeln zur Stelle, Rilke in seinen verschiedenen Werksphasen übt erheblichen Einfluss aus; und von ihm ebenso wie von den christlichen Mystikern schreibt sich die Konvention des eigentlich Unsagbaren her, die Lehnert zuweilen zu etwas verleitet, was ein Lyriker niemals tun sollte: seine Strophen und Gedichte mit drei Pünktchen zu beenden . . .

Eines der längsten Stücke trägt den Titel "Die Mücken". "Sinkende Sonne, die Schwärme tanzen wirr und beharrlich, / reine Gedanken, zufällig wie eine 'beste der Welten', / immer bedürftig nach fremdem Blut. Das Hiesige fasst sie / niemals, sie schwinden und steigen, / Flugbahnen ohne Gewissheit." Das scheint doch sehr übertrieben. Nicht nur wird hier überschätzt, was so 'ne Mücke maximal hinkriegt, speziell im Spirituellen; sondern auch der von den olympischen Göttern erborgte Hexameter donnergrollt gewaltig fehl am Platze. Ohne Zweifel, der Lyriker Lehnert kann was; aber er findet nicht die Objekte, die seinem Können den nötigen Widerstand des Neuen entgegensetzen. Und so bleibt ihm nichts übrig, als aus einer Mücke teils einen Elefanten, teils einen Engel zu machen.

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