Gastbeitrag:Ein, zwei, viele Mittelklassen

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Warum in Brasilien eine chronisch zersplitterte Schicht das ganze Land in Aufruhr versetzt. Letzte Folge der Serie "Bewegte Mitte".

Von Darlan Montenegro

Sie gilt als Garant für Stabilität, ja, als Gradmesser für die demokratische Verfasstheit eines Landes schlechthin: die Mittelschicht. Umso größer das Erschrecken, wenn diese Mitte - wie jüngst in Deutschland - meldet: Es geht uns schlecht. Eine Serie im Feuilleton prüft, warum das so ist. Wie wichtig ist die Mittelschicht für das Wohl eines Landes? Wie leben Länder mit junger, kleiner oder vorübergehend abhandengekommener Mitte? In der letzten Folge dieser Reihe untersucht der brasilianische Politologe Darlan Montenegro die zwiespältige Rolle der Mittelschicht in der aktuellen politischen Auseinandersetzung in Brasilien.

Brasilien hat nicht eine, sondern mehrere Mittelklassen. Der ungewöhnliche Plural ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass sich die verschiedenen Gruppen im jüngsten Konflikt um die Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff höchst widersprüchlich verhalten haben. Zwar nahmen an den Demonstrationen für Rousseff auch Arbeiter, Aktivisten der Landlosenbewegung und Obdachlose teil, aber die Mittelschicht dominierte. Angehörige der Mittelschicht prägten aber auch die Protestmärsche gegen die Präsidentin. Sozial und politisch tritt "die Mittelklasse" ganz und gar nicht als homogene Kraft auf. Das Ringen der Anhänger und Gegner Rousseffs schlug sich auch in den sozialen Netzen nieder, und von der parteiischen Berichterstattung der Medien wurde es noch angeheizt.

Die innere Zerrissenheit ist kein neues Phänomen in unserem politischen Leben. Im Laufe seiner Geschichte haben zwei schwere politische Krisen das Land an den Rand des Abgrunds gebracht. Beide Male spielten die Mittelklassen eine entscheidende Rolle. 1954 gab es einen Putschversuch, der mit dem Selbstmord von Präsident Getulio Vargas teils siegreich war. 1964 erschütterte erneut ein Putsch die Nation, diesmal ein zivil-militärischer.

1954 hatte die Mittelklasse in Rio de Janeiro Carlos Lacerda und seine Kampagne gegen Getúlio Vargas unterstützt. Lacerda war Parlamentsabgeordneter und Gouverneur des Bundesstaates Guanabara und Vargas' meistgefürchteter Gegner. Genauso, wie heute Rousseffs Gegner die Korruption kritisieren, konzentrierte auch Vargas sich damals auf genau dieses Thema. Er erkannte, dass Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung in den Kreisen der Mittelschicht mehr Widerhall finden und leichter zu vermitteln sein würden als die Kritik an fehlenden Rechten für die Armen. Genau diese Strategie wurde in der aktuellen Krise von den Konservativen wieder aufgenommen.

Beim Putsch 1964 widersetzten sich Teile der Mittelschicht in São Paulo und Rio de Janeiro den sozialen Bewegungen für mehr soziale Gerechtigkeit. Vor allem die katholische Kirche trat als Wortführer auf, etwa bei den "Märschen mit Gott und der Familie für die Freiheit". An diesen Großdemonstrationen beteiligten sich vor allem Frauen aus der Mittelklasse, sie marschierten für das Militär gegen den damaligen Präsidenten João Goulart.

Im Jahr 1954 ebenso wie zehn Jahre später beobachteten wir also den Widerstand der oberen konservativen Mittelschicht gegen die Regierungen und gegen die sozialen Protestbewegungen aus dem weniger privilegierten Teil der Mittelklasse. Die breite Masse des Volkes unterstützte die extreme Rechte und die konservativen Parteien allerdings kaum, denn die Opposition litt unter der Repression während der Diktatur, der wirtschaftliche Aufschwung blieb aus, und bald wuchs erneut die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Demokratie. Für eine Weile zogen die unterschiedlichen Lager sogar an einem Strang. Studenten, Anwälte, Journalisten und Beamte, aber auch die Gewerkschaften und die Bauernbewegung traten gemeinsam für die Demokratie ein.

Doch dieser Konsens wurde während der Regierungszeiten der Arbeiterpartei (PT) von Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff nach und nach wieder gestört. Das Muster politischer Kundgebungen der Mittelklasse wiederholte sich: Die Eliten lehnten die Umverteilung des Reichtums und die von Lula und Rousseff verfolgte Sozialpolitik ab. Und sie nutzten die konservativ orientierten Teile der Mittelklasse als Fußvolk auf dem sozialen Schlachtfeld. Wieder einmal diente das Thema Korruption als verbindendes Element mit jenem Teil der Mittelklasse, der in Wahrheit soziale Verbesserungen für andere Bevölkerungsschichten ablehnte.

Unterdrückte konservative Energien wurden freigesetzt, provoziert von der Tatsache, dass die Arbeiterpartei sich beim Wechsel von der Opposition in die Regierung verschlissen hatte und nun als linksorientierte Partei regierte. Außerdem waren die Regierungen von Lula und Rousseff ja tatsächlich in verschiedene Korruptionsskandale verwickelt. Erneut überschattete das schlagkräftige Thema der Korruption die Debatte um Menschenrechte und Einkommensgerechtigkeit. Wenigstens ist das Militär heute nicht mehr in der Lage, die politische Szene zu beherrschen.

Gegenwärtig gibt es eine etablierte Allianz der Opposition gegen die Regierung der Arbeiterpartei. Daran beteiligt sind die Generalstaatsanwaltschaft und Teile der Justiz. Sie erhalten durch die Medien große Unterstützung, vor allem durch das Mediennetzwerk Globo. Sie arbeiteten Hand in Hand, um die Mittelklasse zu mobilisieren und die Regierung zu schwächen. Das Mediennetzwerk Globo verbreitete beispielsweise ausführlich die Untersuchungen der Generalstaatsanwaltschaft oder auch Informationen zur Operation "Lava-Jato", einem milliardenschweren Korruptionsskandal.

Der Wohlstand wuchs, aber er kam vor allem den ganz Reichen und den ganz Armen zugute

Aber auch unabhängig von den Korruptionsskandalen gibt es einen beträchtlichen Teil der Mittelschicht, der mit den Regierungen der Arbeiterpartei denkbar unzufrieden ist. Er hat keinerlei Interesse, ja, sträubte sich hartnäckig dagegen, dass auch andere Teil der Gesellschaft Zugang zu jenen Privilegien bekamen, die zuvor exklusiv der oberen Schicht der Mittelklasse und den Eliten vorbehalten waren. Diese ungewollten Aufsteiger stammten aus Bevölkerungsgruppen, die während der Regierungen der Arbeiterpartei Einkommenssteigerungen erhalten hatten. Sie nannten sich nun "die neue Mittelschicht" oder auch "die neue Arbeiterklasse", konnten sich plötzlich Flugreisen leisten, oder besuchten neue Orte, wie etwa die Shopping Malls der großen Städte. Vor allem im Nordosten verbesserten sich die Lebensbedingungen deutlich.

Die obere Mittelklasse wollte vor allem keine Einkommensverluste hinnehmen, um die Lebensbedingungen der Ärmeren zu verbessern. Und ein guter Teil dieser Verbesserungen war ja auch durch den erheblichen Wirtschaftsboom erreicht worden, den das Land im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts erlebte. Aber das reichte nicht.

Zwei weitere Motive erklären das Unwohlsein der oberen Mittelschicht genauer. Zunächst: Die Regierungspolitik zielte nicht darauf ab, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Der Wohlstand wuchs, und dieses Wachstum wirkte sich durchaus auch auf diese Schicht der Mittelklasse aus. Aber die Gewinner waren die ganz Reichen und die ganz Armen. Der Hauptgrund für die große Unzufriedenheit der oberen Mittelschicht ist allerdings ihre Angst vor einem Statusverlust, sollten die unteren Schichten in das Universum des Konsums aufgenommen werden. Diese Furcht betrifft weniger das Einkommen in absoluten Zahlen als das Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Ärmeren, das dieser Schicht einen "sozialen Komfort" vermittelt. Die Regierung wurde zunehmend als Bedrohung für diesen sozialen Komfort und eine wohltuende Überlegenheit wahrgenommen.

Diese obere, kaufkräftige, misstrauische Mittelschicht beteiligte sich leidenschaftlich an den Massendemonstrationen gegen die Sozialpolitik der Regierung. Während der riesigen Demonstrationen für die Amtsenthebung der Präsidentin zog sie in Scharen auf die Straße. Es waren vor allem die Stadtviertel der oberen Mittelschicht, wo die Leute auf Pfannen schlagend gegen die Arbeiterpartei und für das Amtsenthebungsverfahren gegen die Präsidentin protestierten.

Aber auch die Reaktion kam dann vor allem aus der Mittelschicht: Beamte, Lehrer, Studenten gingen gemeinsam mit den Arbeitern auf die Straße und wiederholten die großen Massenkundgebungen für die Demokratie im Stil der Achtzigerjahre.

Bis heute bewegt sich Brasiliens Mittelklasse in zwei verschiedenen Blöcken: einem progressiven, der die Forderungen nach mehr Rechten für die Armen und mehr Gleichberechtigung mitträgt, und einem konservativen, der auf diese Bewegung ablehnend reagiert. Der Ausgang der Krise ist auch wenige Tage vor den Olympischen Spielen nicht vorhersehbar. Zweifellos werden die verschiedenen Lager einander weiterhin feindlich gegenüberstehen, und das noch für lange Zeit.

Darlan Montenegro ist Professor für Politiktheorie an der UFFR, einer staatlichen Universität in Rio de Janeiro. Deutsch von Michaela Metz

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