Gastbeitrag:Die Initialzündung

Gastbeitrag: Die erste Auflage erschien 1972 bei Reclam Leipzig.

Die erste Auflage erschien 1972 bei Reclam Leipzig.

(Foto: OH)

Die Schriftstellerin Kathrin Schmidt erinnert sich an ihr erstes Reclambändchen: Ein kleines, schwarzes Buch für Erwachsene.

Von Kathrin Schmidt

Ich war vierzehn und besuchte die neunte Klasse der Salzmannschule Schnepfenthal in Thüringen. Mit dem Wechsel zur Erweiterten Oberschule, die mich zum Abitur führen sollte, bekam ich zum ersten Mal Taschengeld. Pro Woche eine Mark. Der DDR, versteht sich. Ich war das, was man gemeinhin eine Leseratte nannte, obwohl weder Bewegungsfreudigkeit noch ein Spitzmäulchen zu meinen Kennzeichen gehörten. Eher war ich ein gemütliches Kaltblut, das einmal ein Brauereipferd hätte werden können. Als ich zum ersten Mal eine eigene Mark in der Tasche fühlte, lief ich aber dennoch ein bisschen schneller als gewöhnlich aus der Schule nach Hause. So, als wäre es möglich gewesen, mit dem Geld eine Tafel Schokolade zu kaufen, dabei hätte ich dafür drei Wochen sparen müssen. Ein Besuch in der HO-Kaufhalle endete unentschlossen, die Mark schwitzte weiter zwischen meinen Fingern.

Mir fiel plötzlich ein, was die Buchhandlung am Marktplatz zu bieten hatte. Darunter auch kleine, schwarze Bücher für Erwachsene, weiße Schrift auf dem Cover, die mitunter tatsächlich nur eine Mark kosteten. Oben UNIVERSAL, unten BIBLIOTHEK, dazwischen Autor, Titel und Reclam in gleicher Größe und Type. Seit einem Vierteljahr war ich schließlich auch erwachsen, hatte die Jugendweihe längst hinter mir. Für eine Viertelstunde verwandelte ich mich in einen flotten Traber und betrat recht abgehetzt das Geschäft. Zielgerichtet suchte ich das Reclam-Regal auf. Das erste Buch, das ich zur Hand nahm, überraschte schon mit seinem Titel: "Ein Baum mit Fischen". Ein Schwede namens Artur Lundkvist hatte es geschrieben. Die Rückseite zeigte, dass es wohl tatsächlich ein Buch für Erwachsene war. Artur Lundkvist, stand da, übrigens schwarz auf weiß, sitzt auf der Bank vor dem Haus in den Vororten von Chicago. In Nerudas knisterndem Strohstuhl. Neben Lorca liegt er auf New Yorks Asphalt wie ein Fisch. Bruderlos lebt er mit Melville, kost die Katze bei den Seufzern der Felder und isst am gescheuerten Tisch Bretons. Spielt auf dem Holzfloß für Majakowski Ziehharmonika. Mit den Arbeitslosen macht er die Steinbänke am Meer alt usw. Was war denn das? Ich fühlte mich auf einmal sehr klein, und ich kannte keinen Erwachsenen, der so sprach. Hatte einen spärlichen Begriff von Neruda und Majakowski, ich ging ja immer sehr gern zur Schule, aber alles andere lag entweder geografisch in unerreichbarer Ferne, oder ich wusste nicht, wovon überhaupt die Rede war. Beim Aufschlagen erwischte ich Seite 79: "Ich sehe einen Schiffbruch in einem Auge,einen sehr kleinen, aber ganz klaren Schiffbruch." Dieser Beginn eines namenlosen Gedichts war die Initialzündung. Ich werde sie nie vergessen. Sie brachte mich dazu, zunächst in diesem Laden zu versacken, wie meine Brüder es nannten, wenn man irgendwo das, was einen umgab, vergaß. Gefangen von einer Art des Sprechens, wie sie ganz neu für mich war, ungewohnt, las ich und las. Verstand keineswegs alles, aber das war gar nicht wichtig: Der Rausch war das Ereignis, das haften blieb. Der umstandslose Glaube, dass es einen Baum mit Fischen geben konnte. Die plötzliche Erkenntnis, dass die Welt sehr groß war und dass anderer Länder Bewohner sie offenbar ungehindert durchreisen konnten. Die Verkäuferin meinte irgendwann, dass sie jetzt aber schließen müsse. Stolz reichte ich die Münze über den Tisch.

Ich selbst reimte seit meinem sechsten Lebensjahr. Nun begann etwas anderes, und es hatte mit diesem kleinen, schwarzen Buch zu tun. Mitunter sparte ich auch, bis ich zwei oder drei Mark beieinander hatte. Für Reclams Universalbibliothek, von deren Ausgaben in meinem Arbeitszimmer noch immer einige Regalmeter besetzt sind. Das führte natürlich auch dazu, dass ich mit den Jahren Artur Lundkvist einzuordnen lernte, der für seine Aktivitäten im dubiosen Weltfriedensrat 1958 den Lenin-Friedenspreis bekommen hatte. Er war kein außerordentlicher Dichter, aber er hat mich außerordentlich beeinflusst, siehe oben. Für eine einzige Mark.

Kathrin Schmidt, geboren 1958 in Gotha, lebt in Berlin. 2016 erschien "Kapoks Schwestern".

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