"Escapades" von Gaspard Augé:Wir sind die Roboter

Gaspard Augé Pressefotos

Gute elektronische Musik kann man nicht nur hören, sondern auch sehen.

(Foto: Jasper J. Spanning)

Sägezahn-Riffs, jubilierende Wüstenrennen und Orgel-Fluff: das neue Album von Gaspard Augé von "Justice".

Von Joachim Hentschel

Bevor wir jetzt auf leeren Magen gleich wieder die große, seit Jahrzehnten pumpende Frage debattieren müssen, warum ausgerechnet die Franzosen immer so irrsinnig große, zukunftsweisende elektronische Musik hinbekommen, ob das wohl an der Kulturförderung liegt oder am vererbten rebellischen Gestus, ob der Laizismus schuld ist oder schlicht der Umstand, dass dort viele so schlecht Englisch können, dass sie ihre Energie lieber in die abstrakt sprechenden Synthesizer hineinleiten als in den Rock'n'Roll - also bevor die Diskussion losgeht, bremsen wir sie doch mit einer neuen, ebenso kruden These aus: Was die Franzosen so gut macht, ist, dass sie die elektronische Musik nicht nur hören können. Sie können sie auch sehen.

Einiges deutet darauf hin. Jean-Michel Jarre errichtet um seine Maschinen herum regelmäßig ganze audiovisuelle Kathedralen, das Duo Daft Punk hat die berückendsten Videos zum Rave-Gedanken der Neunzigerjahre vorgelegt und mit seinem Cyber-Freibeuter-Look das Bild des robotischen Musikarbeiters endlich über die Konrad-Zuse-Ära hinausbewegt. 2010 dengelte Vincent Belorgey, genannt Kavinsky, mit seinem "Nightcall"-Track genau die Neonröhren zurecht, aus denen Nicolas Winding Refn später das Lichtprinzip seines "Drive"-Films baute. Und dann wäre da noch das Air-Plattencover, auf dem die Musiker traumbeduselt in einem Kunstgebäude über dem Monument Valley schweben, im architektonischen Space-Pop-Update zu Pierre Koenigs Stahl House.

Die Begleitbilder des Rock'n'Roll sind im Vergleich ja relativ trivial, was sich aus seiner Herstellung ableitet. Wenn die Gitarre wummert, assoziiert man sich dazu halt einen Menschen, zum Beispiel Lenny Kravitz, der in die Saiten schlägt. Wenn dagegen der Musiker Gaspard Augé, 42, einen seiner womöglich 45 Synthesizer spielen lässt, dann ist das, was man beim Hören vor dem inneren 3D-Auge sieht, sicher kein Mann, der auf Tasten drückt. Es ist eine Szenerie, irgendein Schauspiel, nicht mal unbedingt ein schönes. Es sind Energien, Topografien, Monstrositäten, Choreografien. Die Düsseldorfer von Kraftwerk haben zwar versucht, uns beizubringen, dass auch in solchen Fällen nur Leute auf Knöpfe drücken, aber sie haben die Rechnung eben ohne die Franzosen gemacht.

Augé ist als der Wuschelige im Techno-Rock-Duo Justice bekannt geworden. Hat mit dem Partner Xavier de Rosnay zwei Grammys gewonnen, als Headliner beim weltberühmten Coachella-Festival gespielt und kürzlich dem Popstar Justin Bieber eine Unterlassungserklärung geschickt, weil der nicht etwa ihre Musik, sondern ihr visuelles Logo plagiiert hat. Jetzt haben Augé und seine Synthesizer auch noch eine Soloplatte gemacht, sie heißt "Escapades". Sie enthält keine einzige Zeile gesungenen Textes, ist so durch und durch eskapistisch, wie es der Titel verspricht, und liefert ein paar der abgrundtief farbstarken, turbodynamischen, erhabenen bis ultrakitschigen Bilder, die man auf ihr hören kann, gleich zum Anschauen mit.

"Escapades" von Gaspard Augé: Das Cover: ein Beinahe-Unfall, bei dem der Künstler nur knapp überlebt.

Das Cover: ein Beinahe-Unfall, bei dem der Künstler nur knapp überlebt.

(Foto: Ed Banger / Because Music)

Auf dem Cover zum Beispiel, das einen Beinahe-Unfall zeigt. In einer weiten, leeren Felsenlandschaft ist eine riesige Stimmgabel vom Himmel niedergegangen, hat sich wie ein Geschoss in den Steinhügel gebohrt und nur knapp den Künstler verfehlt, der als Minifigur im Mantel den Fußweg durch die Ödnis fortsetzt. Ein Tableau, das Parodie und Fortschreibung der gängigen Bilderwelt des Progressive Rock ist, auf dessen Hüllen ja gerne überdimensionale Eier, Schlüssel oder sonstige Objekte aus Traumdeutungs-Handbüchern über dem stillen Land schweben.

VHS-Softporno in einem verwunschenen Bretagneschloss

Mit Progressive-Rock, dieser aus LSD-getriebenen Rhythm'n'Blues-Improvisation, Folk und europäischer Klassik gemorphten Kunstmusik, haben diese agilen Synthesizer-Miniaturen aber nur eines gemeinsam: Sie wollen erzählen, sich nach vorne bewegen. Durch irgendwelche Geschichten und Erkenntniszustände hindurch, und auf keinen Fall im Loop verharren wie DJ-Stücke. Die epische Geduld, bis die Drogen wirken, die Sounds schön warm sind und der Dichter zum Punkt kommt, fehlt ihnen jedoch völlig.

Mehr als vier Minuten braucht Augé selten, um seine Sägezahn-Riffs restlos abzuschießen, ein jubilierendes Wüstenrennen ins Ziel zu bringen oder mit Spinett und Orgel-Fluff eine Schöne-und-das-Biest-Novelle zu erzählen, als VHS-Softporno in einem verwunschenen Bretagneschloss. Sogar die fantastischen Videos, die es zu drei der Songs gibt, sind je nur um eine Minute lang, perfekt für Social Media.

Und das ist die interessanteste Frage, die das Album stellt: Was genau sieht das jüngere oder anders sozialisierte Publikum, wenn es die Stücke hört? Wie funktioniert "Escapades", wenn man all die TV-Intros der Achtzigerjahre nicht oder nicht mehr kennt, die Polizei-, Horror- und Erotikfilme, auf deren Klangästhetik Gaspard Augé hier baut wie auf einem Popkulturfriedhof, in dem nachts die Geister aufsteigen? Ohne diese eher vergnüglich daherkommende Platte zu sehr aufladen zu wollen, man kann sie auch als Experiment verstehen. Als Versuch über die visuelle Soundgestaltung und das, was die kommende Pop-Kohorte daraus machen wird. Als Anzucht einer neuen, gefühlsduseligen Roboter-Generation. Enchanté!

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Matt Sayles/Invision/AP 12D2385E-5BE4-4222-BAF0-56D341BB4E93

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