Gamescom:Vergesst die pathologischen Klischees!

Gamescom

Wenn sich in den kommenden Jahren 3D-Brillen etablieren - wie sie es auf der "Gamescom" schon getan haben - bekommt der Realismus eine weitere Dimension.

(Foto: dpa)

Wer das Massenphänomen "Gaming" gleichsetzt mit dem Stereotyp des spielsüchtigen Nerds, verkennt die Realität - und übersieht die positiven Effekte des Zockens.

Kommentar von Patrick Illinger

Ich war kürzlich mal in der Realität. Mochte die Grafik nicht." Wer trägt wohl so einen Spruch auf dem T-Shirt? Na, doch sicher einer dieser chipsfressenden Nerds, die nächtelang vor riesigen Computerbildschirmen sitzen und in virtuellen Endzeitwelten auf andere chipsfressende Nerds ballern. Ja, die gibt es, so wie es auch handfeste Spielsucht gibt. Es gibt Menschen, tendenziell eher heranreifende Jungs, die derart in Online-Welten versinken, dass sie dafür ihr echtes Leben opfern. Doch wer das Massenphänomen "Gaming" gleichsetzt mit diesem pathologischen Stereotyp, wird dem Thema Computerspiele nicht gerecht. Das wäre so einfältig, wie über Engländer, Inder oder Pakistaner die Nase zu rümpfen, weil diese sich fanatisch für ein Spiel begeistern, bei dem Holzstäbe zu Fall gebracht werden müssen. Sie nennen es Cricket.

Bevor man Millionen Menschen ihre Lebensfähigkeit oder gar den Verstand abspricht, sollte man verstehen, was sie antreibt, begeistert - und, wieso nicht, manches selbst ausprobieren. Wer Computerspiele nur als digitale Version von Crystal Meth ansieht, verkennt die durchaus positiven, faszinierenden, manchmal lehrreichen und oft zutiefst unterhaltsamen Seiten digitaler Spielwelten. Und, bitte, das Spielen gehört seit jeher zum Menschsein, ob am Skattisch, auf dem Monopolybrett oder im Hexenwald von Witcher 3.

Geschult werden: Konzentration, Ausdauer, strategisches Geschick

Was treibt sie also an, jene 350 000 Menschen, die derzeit auf eine Messe namens "Gamescom" strömen? Da ist zum einen der Wettkampfaspekt der Computerspielerei, mittlerweile E-Sport genannt. Sport? Das klingt zunächst absurd. Welche Muskeln muss man schon bewegen, damit ein Fabelwesen auf dem Bildschirm ein paar Blitze aussendet? Doch wer so argumentiert, müsste auch Schach, Darts, Snooker, Curling und dem Sportschießen jeglichen Wettkampfcharakter absprechen. Tatsächlich stellen für Laien zunächst so unverständlich wie Cricket wirkende Spiele wie Dota 2 extreme Anforderungen an Konzentration, Ausdauer, strategisches Geschick und Reaktionsgeschwindigkeit.

Wer daran zweifelt, sollte sich einmal hinter das Steuer eines virtuellen Rennwagens setzen. Feuchte Hände sind garantiert, und das klimaneutral. Die Newtonschen Gesetze sind unvorstellbar genau umgesetzt. Man spürt jedes Schlingern in der Haarnadelkurve von Hockenheim. Ein leichtes Reißen am Lenkrad, und die Karre untersteuert. Ein Rad im Gras, und der Staub wirbelt auf. Wehe dem, der bei Regen Slicks aufgezogen hat.

Der stärkste Angriff auf klassische Unterhaltungsmedien wie TV und Kino geht allerdings von sogenannten Open-World-Spielen aus. In diesen ist kein Handlungsstrang mehr vorgegeben, sondern der Spieler bewegt sich selbstbestimmt durch komplexe, erstaunlich realistische virtuelle Welten. Mit fast 300 Millionen Dollar Entwicklungskosten setzte hier die bislang teuerste, allerdings auch umstrittene Computerspielproduktion Grand Theft Auto V einen Meilenstein. Dass man in der virtuellen Stadt San Andreas am laufenden Band Verbrechen begehen muss, rief natürlich Jugendschützer auf den Plan, auch wenn das Ganze die pulpfictionhafte Absurdität eines Quentin-Tarantino-Films hat.

Der optische und akustische Realitätsgrad solch aufwendiger Open-World-Spiele, auch die erfolgreiche Mittelalter-Simulation Witcher 3, saugt ihre Spieler unweigerlich in den Bann. Die technische Perfektion kann mit Kinoproduktionen längst mithalten, die Handlung ist oft komplexer und der Spieler nicht mehr an den Kinosessel gefesselt, sondern Zuschauer, Regisseur und Hauptdarsteller zugleich. Wenn sich in den kommenden Jahren 3-D-Brillen etablieren, bekommt der Realismus eine weitere Dimension.

Mit zunehmender Perfektion steigt die Gefahr, dass noch mehr Menschen als heute der Verlockung der Spielewelten auf krankhafte Weise erliegen. Dagegen sind ähnliche Strategien wie beim Umgang mit Alkohol nötig. Doch Computerspiele sind Teil der modernen Welt geworden. Psychologische Studien stellen hier übrigens nicht, wie oft behauptet, ein rundum schlechtes Zeugnis aus. Bei angemessenem Umgang wird strategisches und räumliches Denken geschult, die Reaktionsfähigkeit erhöht. Und in Mehrspielerwelten lassen sich soziale Konflikte üben. Oder wie kürzlich eine Teenagerin im Restaurant sagte, als das Essen auf sich warten ließ: "In meiner Pizzeria hätten die Gäste längst gemurrt." Sie bezog sich auf ihren Laden, den sie in einem Onlinespiel führt. Es wird keineswegs nur geballert. Die derzeit umsatzstärksten Games in Apples App-Store heißen "Hay Day" und "Gardenscapes". In ersterem ist ein Bauernhof zu bewirtschaften, das zweite ist eine Gartenbau-Simulation.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: