Fundamentalismus:"Nur Gott rettet uns"

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Kirchenlieder mit Punk-Gestus, kein Sex vor der Ehe: zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin ein Besuch bei den New Calvinists in den USA.

Jörg Häntzschel

Wäre es nicht Sonntagmorgen, würde man die Leute vor der schwarz gestrichenen Halle in Seattle für Fans einer Indie-Rockband halten, die auf den Beginn des Konzerts warten. In ihren T-Shirts, engen Jeans und Ironie-Sneakers sehen sie aus, als machten sie was mit Internet oder jobbten neben der Kunsthochschule in einem alternativen Coffeeshop.

"Hi Kids, I'm Mark!" Protest gegen den fundamentalistischen Prediger Mark Driscoll im Internet. (Foto: Screenshot: sde)

Tatsächlich beginnt jetzt im düsteren Inneren eine Band zu spielen. E-Gitarren dröhnen aus den großen Lautsprechern. Doch der Text des Songs, der auf die Leinwand hinter der Bühne projiziert wird, hat nichts zu tun mit den üblichen Rocktopoi. "What can wash away my sin/Nothing but the blood of Jesus./What can make me whole again?/Nothing but the blood of Jesus." Es ist ein Kirchenlied von 1876, rausgeplärrt im Punk-Gestus. Die Leute auf den Klappstühlen singen dazu mit einer Inbrunst, die aussieht wie Wut. Sie schließen die Augen, ballen die Fäuste oder strecken eine geöffnete Hand in die Luft, als wollten sie Gott aus der Luft pflücken oder ihn empfangen wie mit einer Antenne. Viele Paare sind darunter. Er modisch unrasiert, sie im Vintage-Kleid. Sie halten Händchen, doch sie hatten noch nie Sex.

Seattle ist die Stadt mit der höchsten Bildungsrate in den USA und die mit den wenigsten Kirchgängern. Es ist auch die Heimat der Mars Hill Church, der prominentesten Kirche einer rasant wachsenden fundamentalistischen Bewegung amerikanischer Christen: der "New Calvinists". Der Pfarrer und Theologe John Piper aus Minneapolis ist ihr Vordenker. Mark Driscoll, der gerade einmal 39-jährige Gründer von Mars Hill, ist ihr Star. Und wie jeden Sonntag hält er auch heute vier Mal seine oft bis zu 90 Minuten lange Predigt, ein thematisches close reading der Bibel, das dann in einen pädagogisch durchgearbeiteten Sermon voller Drohung und Düsternis mündet.

"Gott richtet, Gott zerstört"

"Falsche Lehrer" lautet das Thema an diesem Sonntag. Dazu hat Driscoll, der mit Cowboystiefeln, Jeans, offenem Hemd und Halskettchen aussieht wie ein Münchner Clubbesitzer, besonders viel zu sagen. "Wer sagt, er sei Christ, und leugnet, dass Jesus ewig ist; dass er ganz Gott und ganz Mensch ist; geboren von einer Jungfrau; am Kreuz gestorben; aufgefahren in den Himmel - der ist ein Häretiker!" donnert er vor dem Bildschirm mit der Powerpoint-Graphik. "Zu sagen, Homosexualität ist nicht so schlimm, Sex vor der Ehe ist okay, ist Häresie! Gott richtet, Gott zerstört. Gott toleriert keine Sünde! Es ist erschütternd und tragisch, wenn die Kirche nicht mehr ist als das Echo einer verdammten Welt."

"Wölfe" nennt Driscoll all die falschen Lehrer: "Sie essen mit dir, sie sind freundlich, jeder mag sie. Und ist es nicht auch verführerisch? Wenn ich in die Kirche dieses oder jenes Pastors gehe, dann kann ich vielleicht meine Frau betrügen und mich trotzdem Christ nennen. - Tu es nicht! Er ist ein Wolf! Er führt dich zur Sünde."

Es war der Theologe Jonathan Edwards, der den Calvinismus im 17. Jahrhundert im jungen Amerika populär machte, vor allem unter den englischen Puritanern. Doch wie in Europa, wo Kant, Leibniz und andere frühe Aufklärer die Luthersche Theologie an die Moderne anpassten, setzten sich auch unter Amerikas Protestanten zeitgemäßere Doktrinen durch. Wie die der Methodisten, die nach den Lehren von Calvins zeitweiligem Rivalen Jakob Arminius den freien Willen in ihr protestantisches Glaubenssystem einbauten.

Wal-Marts der Spiritualität

Seit 20 Jahren verfolgt Europa befremdet, welche Massen den konservativen protestantischen Kirchen in den USA zuströmen. Da ist die evangelikale Southern Baptist Chuck, die Pfingstbewegung, die Assemblies of God, von denen viele zum ersten Mal hörten, als Sarah Palin dort den Segen ihres kenianischen Pastors erhielt, und unzählige andere. Nichts machte den Boom sichtbarer als die "Megachurches", die Tausende von Gläubigen fassen können, wahre Wal-Marts der Spiritualität.

Doch die Europäer interessierten sich weniger für die theologischen als die politischen Aspekte dieser neuen Religiosität. Mit ihrer antiliberalen, antiaufklärerischen und tief in amerikanischen Urideologien verwurzelten Lehren - gegen Abtreibung, gegen Homoehe, gegen Darwin und gegen staatlichen Einfluss (außer wenn es um das Schulgebet ging) - wurden die neuen Kirchen zum Sammelbecken der "moral majority". Ihre Mitglieder sorgten mit der zweimaligen Wahl von Bush dafür, dass daraus auch eine politische Mehrheit wurde.

So nahe viele New Calvinists den großen protestantischen Kirchen politisch stehen, so weit sind sie theologisch von ihnen entfernt. Was Leute wie Piper und Driscoll stört, sind die Versuche der "Sucher-orientierten Kirchen", christliche Religion mit zusammengepflückten Elementen aus der Therapie- und Selbsthilfekultur zu einem "Produkt zu machen, das vermarktet und verkauft wird wie jedes andere", so Driscoll. Und er meint nicht nur Scharlatane wie den Fernsehpastor Creflo Dollar, der predigt, Gott mache die reich, die er liebe. Lauthals prangert Driscoll einen Geist der Toleranz an, der nach Kompromissen zwischen der Bibel und der heutigen kulturellen Realität sucht. Und die Versuche, Gottes Liebe für religiös verbrämtes Motivationstraining zu missbrauchen. Nichts hasst er so sehr wie die feminine, luschige, blind liebende Jesusfigur der Mainstreamkirchen: "Jesus war ein Kerl wie mein Vater, der auf dem Bau arbeitete. Jesus lebte auf der Straße und hing mit den Kriminellen ab. Er hatte nicht Elton John oder die Spice Girls auf seinem iPod."

Der Mensch als "armer Sünder": Das ist für die Calvinisten mehr als ein abstraktes Konzept. Immer wieder malt Driscoll seinem Publikum den ganzen Schrecken des Menschseins aus. Die "Totale Verderbtheit" des Menschen, sein völliger moralischer Bankrott und seine Unfähigkeit, sich Gottes Liebe durch eigenes Engagement zu erwerben, das sind Kernpunkte der Lehre. Unaufhörlich schleudert er Bibelvokabular, das außer ihm kaum mehr jemand anfassen würde, ins freundliche Publikum: "Häresie", "Blasphemie", "Himmel und Hölle", "wahr und falsch", "Wölfe und Schafe", und natürlich der Satan. "Die Menschen sind scheiße, nur Gott rettet uns vor uns selbst", fasst er es in eigenen Worten zusammen.

"Ihr Leben wird vielleicht noch schlimmer, wenn sie Jesus lieben."

Driscoll will nichts zu tun haben mit den Apokalyptikern und Verschwörungstheoretikern des christlichen amerikanischen Untergrunds. Doch mit seinen Predigten erzeugt er eine ähnlich aufgeladene Atmosphäre von Prüfung und Gefahr, die ihm bei anspruchsvolleren Leuten Glaubwürdigkeit garantiert. "Ich erzähle niemandem, er würde reich, gesund oder lebe ein glückliches Leben. Ihr Leben wird vielleicht noch schlimmer, wenn sie Jesus lieben. Und weil ich die Leute unglücklich mache, weil ich ihnen Dinge sage, die ihnen kein anderer sagen würde, glauben sie: Vielleicht ist er ehrlich."

Statt ihnen ein sanftes Kissen auszubreiten wie die anderen Kirchen, packt Driscoll die durchs Leben driftenden Wohlstandskinder mit einer moralischen und spirituellen Aufgabe. Nichts ist in Zeiten verflüssigter Wertesysteme beruhigender als die reine Lehre, die wortgenaue Bibeltreue, ein "Vintage Jesus" (Driscoll) statt der modernen Reproduktion. Schließlich verspricht er ein System, in dem all die Fragmente ihres Lebens plötzlich Sinn bekommen: "Alles gehört Gott: Sex gehört Gott, Geld gehört Gott, Musik gehört Gott, Kunst gehört Gott."

Driscoll, der mit seinem iPhone, seinen Eames-Möbeln und seinen Pop-Referenzen fest im Jahr 2009 verwurzelt zu sein scheint, rechtfertigt seine Lehre und seine Popularität sehr clever ex negativo: "All das Geld, all die Wahlen, all die Institutionen, die das Leben auf Erden besser machen sollten, haben nichts geholfen. Das große Experiment der Moderne, das mit Descartes begann, und nun zu Ende geht, führte zum größten Gemetzel der Weltgeschichte. Deshalb müssen wir die Essenz dessen, was wir sind, fundamental verändern. Wir sind zerfressen von Sünde."

Doch wie lässt sich die antiaufklärerische Sehnsucht weltanschaulich und praktisch mit einem Leben im Jahr 2009 vereinbaren? Wie kann eine Frau in ihrem Beruf die Früchte der Emanzipation genießen, aber sich gleichzeitig zu Hause ganz ihrem Ehemann unterwerfen, wie es die Calvinisten verlangen? Und hat es nicht etwas Verlogenes oder Schizophrenes, wenn man, wie Michael Taron, der ein bisschen wie ein Heiliger aussieht, während der Woche im Namen des Fortschritts bei Microsoft Software entwickelt und am Sonntag dann die Aufklärung verdammt?

Weder der 23-jährige Taron noch all die anderen netten intelligenten Menschen können mit solchen Fragen viel anfangen. Tim Wilson, der mit seiner Frau Linsey und seinen Eltern da ist, sieht überhaupt kein Problem. Sonntags spielt er regelmäßig mit seiner Band Ivan and Alyosha in der Kirche, den Rest der Woche touren sie durch die Clubs der Stadt. Tim und Linsey haben sogar Obama gewählt: "Natürlich finden wir Abtreibung oder Homosexualität schrecklich", sagt sie, "aber das heißt ja nicht, dass man sie unbedingt verbieten muss. Man muss sich seine Schlachten aussuchen."

Mark Driscoll lässt indes keine aus. Verführung und Begehren, die er überall sieht, halten ihn und seine Gemeinde in Schwung. In zehn Jahren soll Mars Hill zur "weltweiten Bewegung" mit mindestens 100 Kirchen geworden sein. Auch in Europa sind einige geplant. "Bei euch in Europa fühlen sich die Leute ja nicht einmal mehr schuldig, wenn sie sündigen. Ich muss schon sagen, Euer Lebensstil ist extrem."

© SZ vom 10.07.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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