200 Jahre "Freischütz":Tierkadaver und Sternscheibenschützen

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Der "Freischütz" wird drinnen im Berliner Konzerthaus gezeigt, das Publikum muss draußen bleiben oder daheim am Bildschirm zuschauen. (Foto: Ralf Müller /imago images/Photopress Müller)

Vor 200 Jahren wurde mit Carl Maria Webers "Freischütz" die populärste romantische Oper im Berliner Konzerthaus uraufgeführt. Jetzt kehrt das Stück an Ort und Stelle seines ersten Triumphs zurück.

Von Julia Spinola

Überdimensionierte Bettlaken haben gerade Konjunktur bei den Berliner Opernpremieren. Vor einer Woche zauberte der Regisseur und Bühnenbildner Stefan Herheim die psychedelisch-überbordende Phantasmagorie seiner "Rheingold"-Deutung an der Deutschen Oper aus wallenden Laken hervor. Nun flattern die Tuchmassen als wechselnd angestrahlte Projektionsflächen im Großen Saal des Konzerthauses am Gendarmenmarkt. Sie flackern mal grell orange als brennender Wald, mal geisterbahngrün oder leichentuchfahl in der gruseligen "Wolfsschluchtszene", und schmücken, frisch gestärkt und zum Band gewunden, den Reigen der Brautjungfern.

Vor genau 200 Jahren feierte im Berliner Konzerthaus, das damals noch Königliches Schauspielhaus hieß, Carl Maria von Webers "Freischütz" seine triumphale Uraufführung. Ganz Berlin sang und pfiff in den folgenden Wochen die Melodien der romantischen Oper nach, die bald zur international geschätzten "deutschen Nationaloper" avancierte. Das "vermaledeite Lied" vom Jungfernkranz, ätzte damals Heinrich Heine, sei in der Stadt so allgegenwärtig gewesen, dass es wohl sogar die Hunde auf der Straße gebellt hätten. Bei der Jubiläumspremiere, die das Konzerthaus jetzt pünktlich zum Tag der Uraufführung als Stream und über zwei recht kleine LED-Leinwände aus dem Saal live auf den Gendarmenmarkt überträgt, scheppert es aus den basslastig wummernden Lautsprechern, während die 500 Menschen auf dem Platz sich bei einem eisgekühlten Apérol Spritz und ein paar Salznüssen den Sonnenuntergang herbeisehnen. Dies tun sie umso mehr, als die in überwiegend schummriger Beleuchtung spielende Inszenierung der katalanischen Regietruppe "La Fura dels Baus" draußen auf der Leinwand bei Sonnenlicht nur schlecht zu verfolgen ist. Als Kritiker verzichtet man daher lieber auf das sommerliche Freiluftidyll und flieht mit guten Kopfhörern vor den heimischen Bildschirm.

Das spanische Regieteam um Carlus Padrissa, das seine Wurzeln im artistischen Straßentheater hat, kann mit den Verheißungen und Abgründen des mythenumwogten deutschen Waldes nur wenig anfangen. Es nutzt stattdessen den gesamten, leer geräumten Konzertsaal für einen irgendwo zwischen Schaustellerei, theatralem Happening und der Science-Fiction-Komödie "Ghostbusters" angesiedelten Öko-Thriller um unsere naturverwüstende Zeit. In dieser wechseln sich - so legt es die neue Dialogfassung dem Erbförster Kuno in den Mund - "Dürren und Überschwemmungen ab", während "das Böse seine Krallen ausfährt". Noch zur Ouvertüre umzüngeln die roten Bettlaken ein paar spärliche Baumkronen, die auf die Orgel über der Bühne projiziert sind. Die Sternscheibenschützen der ersten "Freischütz"-Szene sind daher mit Löscharbeiten beschäftigt. An anderer Stelle im Saal bilden verschlungene Artistenkörper einen Hirsch, auf dem ein Mensch festgeschnallt ist. Die ganze Konstruktion hängt an Haken und Seilen wie Tierkadaver im Schlachthof. Jemand knallt den Hirsch ab und befreit den Menschen. Dies, so erfährt man etwas später, sei ein Ritual aus den seligen Zeiten des Urgroßvaters Kuno senior, als die Natur noch intakt war: eine Strafe für Umweltfrevler. Tradiert habe sich seither der "Probeschuss", um den sich die ganze "Freischütz"-Geschichte rankt.

Der Eremit am Ende der Oper schwebt als Waldschrat herab, mahnt zur ökologischen Korrektheit und landet direkt vor einem Aquarium, in dem eine Nixe verzweifelt gegen den Plastikmüll kämpft

Sie entspinnt sich an diesem Abend um einen großen Kran herum, der eigens aus Spanien mitgebracht wurde und mit dessen Hilfe sich in der etwas armseligen Wolfsschlucht-Szene ein Fledermaus-Samiel und zwei Geistererscheinungen abseilen. Agathes Stube wird durch eine Wand aus aufgetürmten "Ghostbuster"-Rucksäcken markiert. Der Eremit am Ende der Oper schwebt als Waldschrat herab, mahnt zur ökologischen Korrektheit und landet direkt vor einem Aquarium, in dem eine Nixe verzweifelt gegen den Plastikmüll kämpft.

Leider kann das zwar leicht und transparent, aber auch recht blass und spannungsarm aufspielende Konzerthausorchester den Abend auch musikalisch nicht retten. Chefdirigent Christoph Eschenbach hat Mühe, die auf der Bühne positionierten Musiker und die im Saal agierenden Solisten und Mitglieder des Rundfunkchors Berlin halbwegs zusammenzuhalten. Der Jägerchor gerät zum halsbrecherischen Balanceakt. Aus dem solide besetzten Sängerensemble ragen der jugendlich-romantische Tenor von Benjamin Bruns als Max und Christof Fischessers kraftvoll-ruppiger Bass in der Partie des Kaspars heraus. Anna Prohaska macht als temperamentvolles Ännchen mit großer Charakterisierungs- und Darstellungskunst wett, was ihr sonst so flinker Sopran der Partie an diesem Abend mit kleinen Ungenauigkeiten und leichter Indisponiertheit schuldig bleibt. Jeanine de Bique bringt für die Agathe zwar ein wohlklingendes Soprantimbre mit, führt ihre Stimme aber nicht fokussiert genug, sodass ihre Gebetsarie ins Sentimentale zu kippen droht - wozu auch das extrem gedehnte Tempo beiträgt, das Eschenbach dirigiert.

Auch diesen kaum geglückten Jubiläumsabend hat freilich zu einem guten Teil die Seuche mit auf dem Gewissen. Mit der ungewöhnlichen Aufführungssituation sollte die Not der Corona-Verbote in die Tugend eines kreativen Experiments gewendet werden. Als die Bestimmungen aufgehoben wurden und man wieder vor Publikum hätte spielen dürfen, war es zu spät, um neu zu disponieren. Der Probeschuss misslang. Wir hoffen auf neue Freikugeln.

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