Frauenrechte in Saudi-Arabien:"Was da gerade passiert, ist unvorhersehbar"

Dokumentarfilm The Poetess

Die saudische Dichterin Hissa Hilal stammt aus einer Beduinenfamilie. In deren Kultur hatten Frauen weitreichende Freiheiten.

(Foto: Brockhaus/Wolff/Tempel)

Der Dokumentarfilm "The Poetess" über die Dichterin Hissa Hilal gibt Einblicke in ein Saudi-Arabien, das sich langsam der Welt öffnet. Ein Gespräch mit den Filmemachern.

Interview von Kathleen Hildebrand

Als die saudische Dichterin Hissa Hilal 2010 als erste Frau in den Endrunden des Poesie-Wettstreits "Million's Poet" stand, einem Reality-TV-Format mit 75 Millionen Zuschauern in der arabischen Welt, versetzte sie für ein paar Tage arabische wie internationale Medien in Aufruhr: In ihren Gedichten kritisierte sie die streng patriarchalische Gesellschaft ihrer Heimat und verurteilte die Fatwa eines religiösen Führers zur Geschlechtertrennung als extremistisch. Die Filmemacher Stefanie Brockhaus und Andreas Wolff setzten sich daraufhin spontan ins nächste Flugzeug und begannen einen Dokumentarfilm über Hilal zu drehen. Es wurde ein Film über eine mutige Frau, die aber keine Aktivistin sein will. "The Poetess" bietet einen beeindruckenden Einblick in ein Land voller Widersprüche, in dem schon kleine Gesten revolutionär sein können.

SZ: In jüngster Zeit gab es eine sanfte Liberalisierung in Saudi-Arabien. Dann wurden vor zwei Wochen, kurz vor Einführung der Fahrerlaubnis für Frauen, plötzlich saudische Frauenrechtlerinnen verhaftet. Warum hat sich Ihre Protagonistin Hissa Hilal daraufhin entschieden, nicht zum Filmstart nach Deutschland zu kommen?

Andreas Wolff: Sie sagt, dass sie kein Risiko eingehen will, das Regime zu provozieren. Wenn sie jetzt in dieser Situation nach Deutschland reist und sich im Ausland in den Medien zeigt, könnte das so verstanden werden, dass sie sich als Aktivistin engagiert. Sie sagt: Was da gerade passiert, ist unvorhersehbar und sie will auf keinen Fall riskieren, dass ihre vier Töchter ohne sie dastehen. Die jüngste ist autistisch und vollständig auf sie angewiesen.

SZ: Gibt es nach der leichten Öffnung gerade eine Kehrtwende in Saudi-Arabien, zurück zur patriarchalischen Strenge?

Stefanie Brockhaus: Ich sehe die Verhaftungen als Zeichen vom Königshaus an die Bevölkerung. Sie sollen den Leuten sagen: Wir geben euch zwar mehr Freiheiten und das Land wird liberaler. Aber das bestimmt nicht ihr und das schreibt ihr euch auch nicht auf die Fahnen. Das entscheidet das Königshaus allein. Die Bevölkerung soll nicht politisch aktiv werden.

SZ: Als Hissa Hilal 2010 an dem Fernseh-Dichterwettstreit teilnahm, war die Lage noch anders. Ihre Gedichte waren sehr provokant, kritisierten den religiösen Extremismus in Saudi-Arabien. Warum blieb sie damals von offiziellen Sanktionen verschont?

Andreas Wolff: In Saudi-Arabien gibt es zwei Lager. Zum einen die Regierung, also die Königsfamilie - und auf der anderen Seite das religiöse Lager. Beide haben jeweils bestimmte Befugnisse. Die Religionspolizei kann Hissa nicht einfach verhaften, nur weil sie in Abu Dhabi in einem Dichterwettbewerb mit einem Gedicht Bezug nimmt auf die Fatwa eines religiösen Führers. Der König und das Regime haben damit kein Problem, es gibt kein Gesetz, das Hissa daran hindert. So wie ich das verstanden habe, verhaftet die Regierung Bürger nur dann, wenn sie das Regime direkt kritisieren. Wenn sie dem König vorwerfen, dass es keine richtige Demokratie gibt. Das hat Hissa nie getan.

SZ: Aber sie hat Morddrohungen erhalten.

Andreas Wolff: Ja, von Extremisten, die dem religiösen Lager angehören. Die Regierung hält sich von solchen Dingen fern, weil sie stark mit dem Westen alliiert ist und nach außen hin den Eindruck wahren will, dass es ein echtes Rechtssystem gibt. Hissas Familie wurde nicht körperlich angegriffen, aber im religiösen Lager gibt es viele, die zu Gewalttaten bereit sind. Und Regime und religiöse Führung in Saudi-Arabien haben starke Fühler für die westlichen Medien. Die bekommen jede Kleinigkeit mit. Über vieles spricht Hissa deshalb auch nicht mit uns, und ich kann nicht wirklich beurteilen, wie ihre Situation heute ist.

In der Kultur der Beduinen waren Frauen immer frei

SZ: Ihr Film zeigt, dass der saudische religiöse Extremismus sehr jung ist. In der Beduinengesellschaft hatten Frauen traditionell mehr Freiheiten. Hissa Hilal stammt aus einer Beduinenfamilie, erklärt das ihre scharfe Kritik am Extremismus?

Andreas Wolff: Ja natürlich. Sie will darauf hinweisen, dass die Beduinenkultur eigentlich von einer großen Freiheit geprägt ist. Die Wüste kannte keine Grenzen, weder territorial, noch in der Kultur. Und natürlich waren Frauen immer frei. Nur in kriegerischen Situationen wurden die Frauen versteckt und geschützt. Dazu war auch der Schleier da, um die Identität der Frauen in gefährlichen Situationen zu verbergen. Diese freieren Zeiten sind noch gar nicht so lange her. Sie dauerten bis in die Fünfziger- und Sechzigerjahre.

SZ: Die Gesichter von Hissas Töchtern sind im Film zu sehen, ist das üblich?

Stefanie Brockhaus: In Saudi-Arabien dürfen Frauen jedes Alters ihr Gesicht zeigen. Laut Gesetz müssen sie nur das Kopftuch tragen. Dass viele auch ihr Gesicht verhüllen, ist eine persönliche Entscheidung und hat auch mit vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Sittenpolizei zu tun. Aber die ist vor einem Jahr entmachtet worden. Seitdem sieht man auch mehr Frauen in der Öffentlichkeit, die ihr Gesicht zeigen.

SZ: Hissa Hilals Mann wirkt im Film verhältnismäßig liberal, er erlaubte ihr zum Beispiel, an dem Fernseh-Dichterwettstreit teilzunehmen. Kann man sagen, dass die Freiheit einer saudischen Frau stark davon abhängt, was für einen Mann sie heiratet?

Stefanie Brockhaus: Absolut. Jede Frau ist völlig abhängig vom Charakter und den Ansichten eines Mannes. Das kann der Vater sein, der Bruder, oder später eben der Ehemann. Sie bestimmen über die Form des Lebens, das eine Frau führt. Aber die Frauen können sich nicht selbst aussuchen, wen sie heiraten. Die meisten Ehen in Saudi-Arabien sind arrangiert, die Familie sucht nach einem Mann für ihre Tochter und andersherum. Auch Hissas Töchter werden wahrscheinlich jemandem aus dem Umfeld ihres Clans heiraten. Manche Familien lassen ihre Kinder selbst entscheiden. Auch in dieser Hinsicht wird das Land langsam freier. Die Leute heiraten später, nach der Ausbildung und oft auch nach Auslandsaufenthalten. Aber es ist auch noch verbreitet, dass Männer mehrere Frauen haben und jeden Tag in einem anderen Haushalt leben.

Filmteam The Poetess Dokumentarfilm Saudi-Arabien Hissa Hilal

Die Filmemacher Andreas Wolff und Stefanie Brockhaus zusammen mit Hissa Hilal.

(Foto: TobiT; Brockhaus/Wolff/Tempel)

SZ: Frau Brockhaus, wie waren die Dreharbeiten für Sie als Frau - hatten Sie mehr Freiheiten als ein Mann, weil Sie mehr Zugang zu den saudischen Frauen hatten, oder gab es Hindernisse?

Stefanie Brockhaus: Innerhalb der Häuser kann man machen, was man will. Aber ich habe gemerkt, dass ich mich natürlich anders verhalte als eine Saudi-Frau. Die Segregation der Geschlechter hat in Saudi-Arabien zu einer Entfremdung zwischen Männern und Frauen geführt. Man kann sich nicht normal begegnen, jeder Blick ist eine Überschreitung von Grenzen. Aber auch das verändert sich. Bei meinem letzten Besuch im April habe ich viele moderne Cafés gesehen, die es so genauso in Berlin oder München geben könnte. Das sind Oasen, wo man sich auch anders begegnet.

SZ: Sind Sie also optimistisch, was die Liberalisierung von Saudi-Arabien angeht?

Stefanie Brockhaus: Es steht mir nicht zu, das zu sagen. Aber das Land wird sich verändern. Aus der jungen Generation haben viele im Ausland gelebt, in New York, London oder in asiatischen Städten. Sie kommen zurück und sind nicht mehr dieselben Saudis, als die sie erzogen wurden. Das führt zu Spannungen, sie passen sich teilweise auch wieder an. Die Veränderung dieses Landes wird dauern. Und sie wird auf ihre eigene Weise passieren, die von außen vielleicht nicht immer leicht zu verstehen sein wird.

SZ: Im vergangenen Sommer haben Sie Ihren Film beim Dokumentarfilm-Festival in Locarno vorgestellt. In dem Schweizer Kanton gibt es ein Verschleierungsverbot, aber Hissa Hilal ist damals trotzdem angereist. Sie ist ohne Schleier auf die Bühne gekommen. Wie lief das ab?

Andreas Wolff: Uns war überhaupt nicht klar, dass dort ein Schleierverbot herrscht. Irgendwann hat uns der Festivalleiter in einer E-Mail freundlich darauf hingewiesen, dass wir da auf jeden Fall vorsichtig sein müssen. Die Strafen gehen bis zu 10 000 Euro. Wir haben dann mit Hissa überlegt, aber sie meinte sofort, sie würde da hinreisen und auch ihr Gesicht zeigen, wenn keine Fotos gemacht werden. Das hat das Festival durchgesetzt. Hissa ist nach der Premiere vors Publikum getreten, vor mehr als 500 Leute, es war ausverkauft und die standen dann alle auf und haben geklatscht und sie stand ohne Schleier auf der Bühne. Das wird, glaube ich, keiner von uns je vergessen.

Kinos, die "The Poetess" zeigen, finden Sie hier.

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