Französische Literatur:Wolken und Terror

Alexej Wangenheim, Jahrgang 1881, war einst einer der wichtigsten Männer in der Sowjetunion. Jetzt erzählt Olivier Rolin die Lebensgeschichte dieses Anfang Januar 1934 deportierten sowjetischen Meteorologen.

Von Cornelius Wüllenkemper

Der 1881 in einem ostukrainischen Dorf geborene Alexej Wangenheim war als erster Direktor des Hydro-Meteorologischen Dienstes der Sowjetunion ein wichtiger Mann im Staate. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte Russland sich auf seine Vorhersagen verlassen, woher der Wind weht oder ob es regnen wird, um in Galizien die Giftgaseinsätze gegen die Österreicher besser planen zu können. Von 1927 an setzte dann auch Stalins Machtapparat auf Wangenheims Kenntnisse, zum einen im Wettkampf mit den USA um die Eroberung der Stratosphäre per Heißluftballon, und zum anderen im Blick auf die Entwicklung der sozialistischen Landwirtschaft.

Anfang der Dreißigerjahre sagte Wangenheim voraus, dass in Zukunft Sonne und Wind im Zentrum der Energiegewinnung stehen würden. Der Aufbau eines all-sowjetischen Wetterdienstes mit Stationen in jeder noch so abgelegenen Region des Riesenreiches und sein Traum von einer weltweiten Vernetzung meteorologischer Daten fanden international große Beachtung. Wangenheim war aber durchaus kein politischer Mensch, sondern bloß ein leidenschaftlicher Meteorologe.

Wenn der französische Schriftsteller Olivier Rolin in seinem Roman "Der Meteorologe" nun erstmals Wangenheims Geschichte und seiner Rolle im kommunistischen Herrschaftssystem nachspürt, arbeitet er auch seine eigene Vergangenheit auf. Bereits in seinem Roman "Die Papiertiger von Paris" (dt. 2003) hat Rolin, der in den Sechzigerjahren einer militant-maoistischen Untergrundzelle angehörte, aus der realsozialistischen Propaganda und den eigenen Lebenslügen seinen Stoff gewonnen. Rolin widmet einen Großteil seiner literarischen Arbeit nicht nur seiner "ideologischen Idiotie", sondern auch der Geschichte Russlands, des Vaterlands der sozialistischen Revolution.

Französische Literatur: Aus dem "Geometrischen Herbarium", das Alexej Wangenheim im Lager für seine Tochter angelegt hatte: Anleitung zum Zeichnen einer Spirale.

Aus dem "Geometrischen Herbarium", das Alexej Wangenheim im Lager für seine Tochter angelegt hatte: Anleitung zum Zeichnen einer Spirale.

(Foto: Liebeskind Verlag)

Die Vorbereitung zu seinem neuen Roman "Der Meteorologe" führte Rolin auf die Solowezki-Inseln im Weißen Meer, 160 Kilometer südlich des Polarkreises. Dort entdeckte er eine Klosterfestung aus dem 15. Jahrhundert, die von 1923 an das erste sowjetische Lager des Gulag beherbergt hatte. In den Aufzeichnungen ehemaliger Insassen des Lagers fand er zahlreiche Briefe und kunstvolle Zeichnungen von Pflanzen und Tieren, die ein gewisser Alexej Wangenheim aus dem Arbeitslager an seine Frau und Tochter geschickt hatte.

Dem einstigen Chef-Meteorologen Wangenheim war zum Verhängnis geworden, dass er den Kopf etwas zu sehr in den Wolken hatte und sich für das irdische Tagesgeschäft kaum interessierte. Am 8. Januar 1934, auf dem Höhepunkt seiner Karriere im Sowjetsystem, wurde er von Agenten der Staatssicherheit verhaftet. Der Vorwurf: in einer Zeitschrift seines Instituts hatte ein Autor über die neue "norwegische Theorie" zur Entstehung von Tiefdruckgebieten geschrieben, ohne explizit auf die Verdienste der sowjetischen Wetterforschung einzugehen. Ein eifersüchtiger Kollege hatte Wangenheim zudem beschuldigt, einem Sabotage-Zirkel anzugehören und Wettervorhersagen gefälscht zu haben, um der sowjetischen Landwirtschaft zu schaden.

Nach einem Tag im Verhörraum gestand der gänzlich unschuldige Wangenheim jeden einzelnen der infamen Vorwürfe und lobte anschließend sogar die Effizienz der Verhörmethoden. Widerstand war zwecklos, das wusste er nur zu gut. Wangenheim war überzeugt, dass es sich bei seiner Verhaftung nur um ein Versehen im System handeln konnte.

Oder brauchte die Staatspolizei etwa einen Schuldigen für die verheerenden Ernteausfälle, Hungerkatastrophen und das Massensterben in der Ukraine? Für das Ende von Wangenheims Geschichte spielt das keine Rolle: nach seiner Deportation auf die vom Eis eingeschlossenen Solowezki-Inseln und drei Jahren Zwangsarbeit wurde er laut der akribischen Aufzeichnungen der Staatspolizei im Oktober 1937 gemeinsam mit 1100 Mithäftlingen per Genickschuss exekutiert und in einem Massengrab im Wald verscharrt.

Französische Literatur: Olivier Rolin: Der Meteorologe. Roman. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2015. 240 Seiten, 98 farbige Abb., 19,90 Euro.

Olivier Rolin: Der Meteorologe. Roman. Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2015. 240 Seiten, 98 farbige Abb., 19,90 Euro.

Man warf ihm Sabotage durch Fälschung von Wettervorhersagen vor

Olivier Rolin nähert sich seinem wenig heldenhaften Protagonisten äußerst behutsam. Ihn selbst habe Wangenheims blindes Vertrauen in die Partei zunächst enttäuscht. Doch dann sei ihm aufgegangen, dass genau in dessen innerem Kampf zwischen blinder Folgsamkeit und der ungläubigen Empörung über die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit der literarische Stoff liege. Wangenheims zahlreiche Gesuche an die Sowjet-Führung, seine Lobgesänge auf die Weisheit der Partei blieben unbeantwortet. Auch die Stalin-Mosaike, die er aus Steinsplittern in seiner Freizeit anfertigte, stimmten die Sowjet-Führer nicht um.

Detailliert schildert der Roman nicht nur die zunehmende nervliche Zerrüttung seines Protagonisten in der Lagerhaft, sondern auch die Mechanismen des stalinistischen Repressionsapparats, denen allein während des Großen Terrors der Jahre 1937/38 mehr als 750 000 Menschen zum Opfer fielen. Dabei tariert Rolin das Distanzverhältnis zu seinem Protagonisten als Individuum und als einem Repräsentanten der Weltgeschichte gekonnt aus und verknüpft die verschiedenen Quellen seines Stoffs zu einem faszinierenden Gesamtbild mit dokumentarischem Kern.

Neben Wangenheims Briefen an seine Frau und seine Tochter stützt Rolin seine Recherche auf die Erkenntnisse von Lokalhistorikern der Solowezki-Inseln und die Forschungen des Geschichtsvereins "Memorial", der übrigens im Russland Putins derzeit mehr und mehr unter Druck gerät. Mit Memorial-Mitarbeitern spürt er in einem Wald unweit der Festlandküste das Massengrab auf, in dem Alexej Wangenheim 1937 endete. Der Schilderung des Recherche-Prozesses widmet Rolin ein ganzes Kapitel seines vierteiligen Buches und fügt so dem Roman die Geschichte seiner Entstehung hinzu. Aus einer Fülle von Details, die, gerade weil sie nüchtern-faktisch berichtet werden, ihren Schrecken entfalten, wird deutlich, wie der Traum der Sowjets vom "neuen Menschen" zum Albtraum wurde.

Bis zu ihrem Tod erfuhren weder seine Witwe noch seine Tochter Genaues über das Schicksal Wangenheims, der erst 1956 unter Nikita Chruschtschow offiziell rehabilitiert wurde. Erst Olivier Rolins aus der Recherche hervorgegangener Roman macht diese exemplarische Geschichte über den Untergang eines Naturwissenschaftlers in der Verdachts- und Denunziationsmaschinerie der Sowjetunion nun einer größeren Öffentlichkeit auch im Westen bekannt.

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