Französische Literatur:Schwerelos durch die Nacht

Die französische Autorin Julia Deck nutzt in "Winterdreieck" das Erbe des "Nouveau Roman", um ihrer Hauptfigur Spielräume zu eröffnen - und sie in ein Rätsel zu verwandeln.

Von Cornelius Wüllenkemper

Mademoiselle hat keine Lust mehr zu arbeiten. Ihren jüngsten Job als Verkäuferin in einer Ladenkette für Haushaltsgeräte im nordfranzösischen Le Havre beendet sie ebenso spontan wie radikal: mit einem auf höchster Stufe rotierenden Handrührgerät versetzt sie ihren Chef in Angst und Schrecken, weil der ihr den wohlverdienten Sommerurlaub abschlagen will.

Nun ist das Konto der gescheiten, attraktiven Mademoiselle leer, die Wohnungsräumung steht bevor, die Arbeitsvermittlerin meint: "da ist nichts zu machen." Dem Leben nach den Gesetzen der Marktwirtschaft stellt Mademoiselle die Entscheidung für eine bessere, selbstbestimmte Identität entgegen: "Romanschriftstellerin. Eine verführerische Tätigkeit." Auch wenn sie bis dato keine einzige Zeile geschrieben hat, kommt die junge Frau mit ihrer Ungeniertheit erstaunlich weit.

Dieser zunächst reichlich verträumt wirkende Plot ihres Romans "Winterdreieck" sei ein durchaus ernst gemeintes sozio-politisches Statement, gibt die 1974 in Paris geborene Journalistin und Autorin Julia Deck zu Protokoll. Bereits Decks Erstling, "Vivianne Elisabeth Fauville", der 2013 als kleine literarische Sensation gefeiert wurde, spielte mit der Frage nach der eigenen Identität in einer unübersichtlichen Lebenswelt. Er erzählte die Geschichte einer jungen Mutter, die in einem Wutanfall ihren Psychiater mit einem Küchenmesser tötet. Oder ist der Mord nur das Hirngespinst ihrer zerfallenden Persönlichkeit?

Drei Sterne, drei Hafenstädte, eine Dreiecksbeziehung

Auch dieser zweite Roman Decks enthält jede Menge schiefe Ebenen, falsche Fährten und doppelte Böden. "Winterdreieck" bezeichnet nicht nur eine Konstellation von drei Sternen am Nordhimmel, sondern auch das Gravitationsfeld, in dem die Handlungselemente dieser Geschichte angesiedelt sind: drei französische Hafenstädte, eine amouröse Dreiecksbeziehung und eine junge Frau, die drei Identitäten auf sich vereint und wie schwerelos durch ihr eigenes Universum gleitet. Wie eine Kamera folgt der Roman der namenlosen "Mademoiselle" durch die Straßen von Le Havre. Als frischgebackene Schriftstellerin Bérénice Beaurivage - die Figur ist aus einem Film von Eric Rohmer entliehen - lässt sie sich versonnen durch den Tag treiben und sammelt allerhand Informationen zur Geschichte der Stadt, ganz so, wie ein Schriftstellerin es tun würde, um eine Romanwelt zu erschaffen.

In einer Cocktail-Bar gabelt sie schließlich einen Mann auf, verbringt nach ein paar Drinks die Nacht mit ihm und erleichtert ihn dann um sein Geld. Mit geliehener Identität lebt es sich zwar unkompliziert, aber eben auch unsicher. Je mehr sich die junge Frau in ihrer neuen Rolle als Schriftstellerin einrichtet, je schräger die kleinen kriminellen und erotischen Abenteuer in ihrer neuen Haut werden, um so mehr scheint sie den Kontakt zur Realität zu verlieren. Die Außenwelt wird ihr zunehmend zur Romankulisse, ihre Mitmenschen werden zu Statisten.

Wie ferngesteuert nimmt Mademoiselle den Zug in die bretonische Hafenstadt Saint-Nazaire, irrt auch hier ziellos zwischen gesichtslosen Nachkriegsbauten umher, und findet endlich etwas Halt in den Armen eines freigiebigen Schiffsinspekteurs. Der junge Mann ist von der vermeintlichen Schriftstellerin allerdings nur so lange fasziniert, bis ihm erste Zweifel kommen: hat seine "Bérénice" vielleicht einen Knall, leidet sie an Gedächtnisverlust, nutzt sie ihn aus, oder existiert sie womöglich gar nicht? Die ungreifbare Protagonistin trägt nicht nur den Namen einer Figur von Eric Rohmer, sie ist auch aus demselben Stoff gemacht: sie weiß, dass sie nur eine ausgedachte Figur in einem Roman ist.

Eine junge Frau, die sich nichts mehr vorschreiben lassen will

Julia Deck spielt ein raffiniertes Spiel um Fiktion und Realität. Sie arrangiert Versatzstücke objektiver Information über die Schauplätze des Romans zu einem Mosaik der radikal subjektiven Wahrnehmung ihrer Heldin. So wie Mademoiselle als Bérénice durch ihr Leben taumelt, irrt auch der Leser durch ein Labyrinth von Handlungselementen, Erzählperspektiven, Vor- und Rückblenden. Wer ist die geheimnisvolle Journalistin Blandine, die Bérénice den Schiffsinspektor abspenstig machen will und ihre erfundene Identität als Schriftstellerin zu enttarnen droht? Ist sie womöglich nur eine weitere Facette von Bérénices fragmentierter Persönlichkeit oder gar eine Erfindung ihrer schriftstellerischen Fantasie? Darüber geben die verschiedenen Erzählinstanzen ganz unterschiedlich Auskunft, bis jeder Halt verloren geht.

Nicht von ungefähr erscheinen Julia Decks Romane beim französischen Verlagshaus "Les Editions de Minuit", der Heimat der großen Autoren des "nouveau roman" aus den 1950er-Jahren, die das Spiel mit den Erzählformen auf die Spitze trieben. Julia Deck übernimmt diese immer spannend, manchmal auch verstörend zu lesende Erzähltechnik und erforscht damit die Spielräume im Leben einer jungen Frau, die sich nichts mehr vorschreiben lassen will. Als am Ende ihre Flucht in die Rolle der Schriftstellerin Bérénice Beaurivage zu scheitern droht, hat sich Mademoiselle längst wieder neu erfunden.

Julia Deck: Winterdreieck. Roman. Aus dem Französischen von Antje Peter. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2016. 139 S., 17,90 Euro. E-Book 14,99 Euro.

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